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Sammelsurium - Gesammelte Worte


Autorinnenleben halt ... und so!

Hier findest du eine bunte Sammlung meiner Texte – Gedichte, Gedanken und kleine Fundstücke aus dem Alltag. Manche sind leise, andere laut, einige voller Fragen, andere wie Antworten. Sie alle sind Teil meines Weges und vielleicht auch ein Stück deines. Lass dich treiben, lies querbeet oder bleib bei den Worten hängen, die dich gerade berühren.

Aus der Schreibwerkstatt von Ela Herzundwort
Bücherreihe

Es fühlt sich an, als würden wir wie Wasserfarben über ein Blatt laufen.

Früher legten sich unsere Linien ineinander, verschmolzen zu neuen Tönen, wo vorher nur Leere war. Wir waren ein Bild in Bewegung, immer im Wandel, aber getragen von einer unsichtbaren Harmonie. Heute zerfließen wir auseinander. Unsere Farben stoßen sich ab, ziehen Ränder, die uns trennen. Manchmal noch nah genug, dass wir uns streifen könnten – doch die Bewegung bleibt aus. Zurück bleiben dünne Adern der Stille, die sich wie Risse durch uns ziehen.


Ich erinnere mich an den Anfang. An Küsse, die nach Erdbeeren in Champagner schmeckten, prickelnd wie Brausepulver, süß und leicht, voller Versprechen. Damals konnte ein Blick Funken schlagen, konnte ein Lachen Räume füllen. Heute liegt etwas Schweres auf der Zunge, wie dunkle Schokolade, bitter und langsam schmelzend, mit einem Nachhall, der sich nicht auflöst. Es ist Liebe, ja – aber eine Liebe, die schwer geworden ist, die mehr trägt, als sie leuchten darf.


Unsere Hände ruhen nebeneinander, so nah, dass nur ein Atemzug sie trennt. Ich könnte dich berühren, ohne mich zu bewegen. Und doch bleibt meine Hand liegen, bleibt deine Hand still. Früher war das selbstverständlich: ein Griff nach deiner Wärme, eine Selbstverständlichkeit der Nähe. Heute scheint schon die kleinste Bewegung ein Risiko, als könnte sie das Schweigen zersplittern.


Dein Rücken wendet sich im Schlaf ab. Meine Schultern ziehen sich zusammen, als wollten sie sich schützen. Wir atmen nebeneinander, doch unsere Atemzüge sind nicht mehr eins. Sie stolpern, sie fallen auseinander. Jeder sucht seinen eigenen Rhythmus.


Das Schweigen hat einen Geruch. Bitter, nach kaltem Kaffee, der längst vergessen auf dem Tisch steht. Er trägt diesen säuerlichen Beigeschmack von etwas, das einmal Wärme war und jetzt nur noch Müdigkeit ausdünstet. Das Schweigen hat einen Klang: das Klirren von Besteck, das niemand kommentiert. Eine Stille, die schwerer wiegt als jedes Wort. Und es hat ein Bild: Brotkrumen auf dem Tisch, die keiner wegräumt. Ein winziges Durcheinander, das wächst. Bis einer innerlich schreit: „Siehst du nicht, dass ich es allein tragen muss?“


Ich sehe deine Augen. Früher leuchteten sie, funkelten, wenn sie mich fanden. Heute blicken sie ins Handy. Sie sind matt, dunkel vor Müdigkeit, so tief, dass meine Sehnsucht darin versinkt. Und ich? Ich wage kaum, dich lange anzusehen, aus Angst, darin nur noch Leere zu finden. So wenden wir uns beide ab, jeder auf seine Weise.


Und doch – so kalt diese Stille ist, in ihr liegt auch etwas Zartes. Ein Raum, der flüstert, dass Verlorensein nicht endgültig sein muss. Vielleicht ist es ein Innehalten, kein Ende. Vielleicht ist dieses Auseinanderfließen eine Möglichkeit, uns neu zu entdecken. Vielleicht muss man sich manchmal verlieren, um wieder zueinanderzufinden.


Ich frage mich leise: Haben wir uns verloren? Oder haben wir nur vergessen, uns wiederzufinden? Was brauche ich, um mich dir zu nähern, ohne mich zu verbiegen? Was brauchst du, um mich sehen zu können, wie ich bin? Ich will nicht anders sein, als ich bin. Ich will Akzeptanz, keine Anpassung. Und ich weiß: Das gilt für uns beide. Miteinander geht nicht einseitig. Miteinander braucht Füreinander.


Vielleicht liegt unser Wir nicht in der Erinnerung, nicht in dem Versuch, Vergangenes zurückzuholen. Vielleicht liegt es in der Wiederentdeckung. In kleinen Gesten, die wieder Bedeutung tragen: ein „Gute Nacht“, das nicht Floskel ist, sondern Zärtlichkeit. Ein Blick, der nicht ins Handy fällt, sondern ins Herz. Eine Hand, die sich ausstreckt, nicht wissend, ob sie ergriffen wird – und trotzdem bleibt.


Es sind nicht die großen Gesten, die uns zurückführen. Es sind die stillen. Das gemeinsame Lachen über etwas Belangloses. Ein Schweigen, das nicht trennt, sondern hält. Vielleicht ist das der Anfang. Stein für Stein, Atem für Atem, bis das Wir sich wieder zeigt.


Vielleicht ist es nie wirklich fort gewesen.

Vielleicht war es nur verborgen.

Vielleicht braucht es genau diesen Weg –

damit aus dir und mir

wieder ein Wir wird.

„Miteinander. Nebeneinander. Füreinander - geht nicht allein.“

Lyrik ist für mich ein Tagebuch ohne Datum.

Ein Herzklopfen in Buchstaben.

Ein Sich-Erinnern daran, dass wir fühlen dürfen. Dass wir echt sein dürfen.

Zerbrechlich. Wütend. Leicht. Schwer. Liebend. Alles auf einmal.

Ich schreibe, um zu verstehen.

Ich lese, um zu fühlen.

Und ich teile, um zu verbinden -

wenn Sprachlosigkeit gefangen hält,

Worte fehlen. Und sich vieles lost anfühlt.

Gerade dann finden mich Herzen:

durch Zeichen, durch Worte,

durch Begegnungen.

Sie geben mir Mut

und erinnern mich daran:

Es gibt sie –

die Herz-Zeit,

in der wieder Sinn entsteht.

Und genau davon erzählen meine Lyrikbände #Herzzeitlos I - Atemlos und

#Herzeitlos II - Atemzug

Gedichte, die atmen.

Ehrlich. Roh. Und voller Seele.

So wie das Leben selbst.

Lies mit dem Herzen.

Finde dich in den berührenden, fühlenden, achtsamen, mutigen

Zwischenräumen.

Und bleib einen Moment lang bei mir

⁃ und vor allem: bei dir.

„Miteinander. Nebeneinander. Füreinander - geht nicht allein.“

Zwischen Noailles´ Versen über Licht, Nähe und dem Unaussprechlichen.

Zwischen Noailles´ Versen über Licht, Nähe und dem Unaussprechlichen. Sie malte die Stadt zum ersten Mal mit Neunzehn. Ohne Vorlage, ohne Plan. Nur dieser plötzliche Impuls, ein Bild in sich zu tragen, das rausmusste. Die Tür war alt und grün, leicht abgeschabt. Die Gasse eng, lichtdurchflutet. Und irgendwo im Hintergrund Wasser. Ein Flirren zwischen den Häusern, das nicht ganz greifbar war. Ein Flirren zwischen den Häusern, das sich entzog, sobald man es greifen wollte. Sie wusste nicht, wie sie die Stadt nennen sollte. Wie auch? Sie kannte sie nicht. Und doch kehrte sie immer wieder. In Träumen, in flüchtigen Skizzen, welche sie auf Servietten und Rückseiten von Rechnungen abwesend zeichnete.


Der Nachmittag roch nach heißem Asphalt und Sonne auf verschwitzter Haut. Umgeben von alten Bildern, Kaffeekannen mit Goldrand, Spitzendeckchen an denen Geschichten haften, und zerkratzten Schallplatten, streifte sie über den Flohmarkt. Lies sich treiben. Zwischen einem Schachspiel ohne König und einem Koffer voller loser Tarotkarten erweckte ein alter französischer Lyrikband ihre Aufmerksamkeit. Das vergilbte Cover, der brüchige Buchrücken. Etwas daran berührte sie. Sie schlug ihn auf. Ein Geruch, der mehr nach Pinienharz roch als nach Staub, stieg ihr in die Nase.


Mit Mitte Dreißig fand sie sie. Eine Postkarte. Eingeklemmt zwischen Rimbauds Zeilen über das Entwurzeltsein und Noailles´ Versen über Licht, Nähe und dem Unaussprechlichen. Fast übersehen. Der Rand leicht eingerissen, das Papier spröde. Doch unübersehbar: der vertraute Umriss. Die Stadt. Ihre Stadt. Die grüne Tür. Die steinernen Treppen, die Spuren von Jahrhunderten trugen. Der Turm mit einem Geländer, das seine besten Tage kannte. Und dahinter: Wasser, auf dem sich Sonnenstrahlen auf kleinen Wellen wiegen. Ihre Finger zitterten leicht, als sie sie drehte. Auf der Rückseite stand kein Absender. Keine Marke, kein Datum. Nur ein einziger Satz in verblassender Tinte: Für dich. Wenn du irgendwann wiederkommst. Es beginnt immer hier. H.


Sie lehnte die Karte an die Tiffany Lampe, welche auf ihrem Nachttisch stand. Ein Erbstück ihrer heißgeliebten Großmutter, deren Charakter und Eigenarten ebenso schillernd waren. Eine zeitlose Schönheit. In der Nacht träumte sie zum ersten Mal von der Stadt von innen. Nicht als Bild. Als Erinnerung. Am Morgen war sie noch müde vom Traum, aber wach in einer neuen Weise. Als hätte jemand eine Schublade in ihrem Innersten geöffnet, die sie längst vergessen hatte. Oder nie selbst gefüllt.


Die Bilder blieben haften. Der Wind, der zwischen zwei Häusern hindurchpfiff und ihr Haar streifte. Die warme Brise, die nach Zitrone, Salz und alten Geschichten roch. Die kleine Tasse auf dem Fenstersims eines Cafés, in das sie nie gegangen war – aber genau wusste, wo die Kuchentheke mit den stets frisch gebackenen Verlockungen stand. Sie stellte die Postkarte auf ihre Staffelei. Nicht zum Malen, sondern zum Erinnern. Dann begann sie zu suchen. Nicht bei Google, nicht in Karten oder Archiven – sie suchte im Gefühl. Im Rauschen. In Liedern, die wie aus dem Nichts in ihre Playlists gespült wurden. In Sätzen von Fremden, die so klangen, als hätten sie doppelte Bedeutung.


Und dabei wuchs in ihr ein Fernweh. Nicht nach einem Ort, sondern nach etwas, das sie zu kennen glaubte, obwohl sie es nie benennen konnte. Ein stilles Sehnen, das keine Richtung brauchte, aber einen Ruf in sich trug. Sie wusste nicht, wonach sie suchte. Vielleicht war es jedoch genau dieses Gefühl, das sie immer wieder hatte aufschauen lassen. Dieses eine, dass man nicht erklären kann. Nur fühlen. Nach und nach tauchten weitere Details auf. Ein Mann mit einem Hut, den sie zu erkennen schien. Eine rote Seidenstola, die sie einmal getragen haben musste. Der Klang von alten Glocken, nicht kirchlich, eher wie ein Schiffssignal oder wie ein Lied, das man nicht kennt, aber mitsummt.


Sie begann, die Stadt zu malen. Nicht mehr flüchtig. Nicht mehr skizzenhaft. Sie kannte jetzt die Farben: das verwaschene Ocker der Häuser, das tiefe Blau der Schatten, das fast goldene Licht am späten Nachmittag. Und dann buchte sie ein Bahnticket. Einfach so. Nicht, weil sie den Ort auf der Karte fand. Sondern weil sie spürte: „Ich werde ihn erkennen, wenn ich dort bin.“ Die Fahrt ging nach Süden. Sie hatte keinen Namen, nur eine Richtung. Eine leise Ahnung. Ihre Tasche lag auf dem Schoß, die Postkarte im Seitenfach verborgen. Ihre Hände ruhten darauf, die Finger ineinander verschränkt, als hüten sie einen Schatz, der nicht verloren gehen darf.


Landschaften zogen wie Erinnerungen an einen unscharfen Traum vorbei: Olivenhaine, schieferblaue Dächer, flatternde Wäsche auf dünnen Leinen. Manche Bilder blieben hängen. Ein gelber Vorhang, der im Wind zu winken schien. Ein Baum mit nur einer einzigen Orange. Ein Hund am Straßenrand, unbewegt wie eine Statue. Surreal, wie Dinge die nie wirklich passiert sind. Der Zug stoppte ruckartig. Eine Durchsage, verrauscht, abgehackt, in einer Sprache, die sie nur halb verstand: „… e´boulement … rails … station provisoire …“ Knisternd sprach sie von „Geröll auf den Schienen“. Weiterfahrt ungewiss.


Die Türen öffneten sich zischend, ein warmer Wind strich durch das Abteil, trug Staub und einen Hauch von Sommer mit sich. Sie stand auf, nahm ihre Tasche und trat hinaus. Der Bahnsteig war klein, beinahe verwunschen. Leer. Keine Anzeigetafel, kein Kiosk, nur eine spröde Holzbank und ein Schild, das schief hing. Der Ortsname auf dem Schild an der Decke, wo Putz sich löste, wirkte eingerostet. Aber sie spürte es sofort. Etwas in ihr wurde still. Nicht leer. Eher wie eine Saite, die aufhörte zu vibrieren, weil sie angekommen war. Kein Ziel, kein Triumph. Nur ein Innehalten. Ein Wiedersehen ohne Worte.


Sie war allein unterwegs, aber fühlte sich nicht mehr fremd. Ein Gefühl wie Déjà-vu – nur leiser. Als würden die Pflastersteine sie erkennen. Sie ging los. Die Straßen waren schmal, manche schienen eher für Gedanken gemacht als für Füße. Der Weg führte bergab, vorbei an alten Mauern mit Efeu und orange blühendem Knöterich, an Fensterläden, halb geschlossen, wie müde Lider, die in der Nachmittagssonne flimmerten. Dann sah sie ihn: den Platz mit dem Brunnen. Das Café. Der Fenstersims, die kleine Tasse mit einem angedeuteten Sprung, der etwas Altes in sich trug, das nicht zerbrochen war. Die Tür mit dem grünen Lack, abgeblättert am unteren Rand. Und die Stufen, die hinabführten – genau wie auf ihrer Postkarte.


Sie blieb stehen. Ihr Herz schlug nicht schneller, sondern klarer. Kein Zweifel, kein Staunen, nur Gewissheit. „Zurück.“ Sie fand ein kleines Zimmer oberhalb des Platzes. Die Fassade charmant verwittert. Die Besitzerin sprach kaum Englisch, aber sie lächelte, als sie bezahlte. Als sie ihr den Schlüssel gab, sagte sie in einfachem Ton: „Please, when you go … key under the little statue. Next to stairs.“ Es war ein beiläufiger Satz. Und doch wie ein Zeichen, das andeutet, als hätte sie gewusst, dass jemand wie sie irgendwann kommen würde.


Am Abend saß sie am Fenster. Die Stadt lehnte sich gegen die Dämmerung. Sie stellte die Postkarte wie einen Talisman neben sich. In der Nacht träumte sie von flirrender Hitze. Und von einem Satz, der immer wieder durch ihr Inneres glitt: „Man kann sich auch an etwas erinnern, das man vergessen musste.“


Am nächsten Tag war sie früh wach. Die Stadt lag noch im Dämmerlicht, das Blau des Morgens schwer und weich wie Samt. Sie stieg die steinernen Stufen zum Wasser hinab, den Weg, den sie schon hundertfach im Traum gegangen war. Jeder Schritt war leiser als der vorherige. Als würde die Stadt lauschen. Unten am Kai. Die gusseiserne Straßenlaterne, ein nostalgisches Relikt vergangener Zeiten, flackerte ein letztes Mal – als wolle sie die Nacht verabschieden, bevor der Morgen endgültig beginnt. Kein Mensch war zu sehen. Kein Boot. Nur das leise Glucksen der Wellen gegen die Piermauer.


Sie setzte sich. Spürte den kühlen Stein unter sich. Atmete. In sich hinein. In die Stadt hinein. Dann sah sie ihn. Oder eher: sein Abbild. Im Wasser. Nicht ihr eigenes Spiegelbild. Ein anderes Gesicht. Verwischt. Fremd. Und doch vertraut. Ein Mann – vielleicht fünfzig. Dunkles Haar, ein Schal, neben seinem rechten Auge eine Narbe, die tief erschien, aber nicht traurig. Er stand nicht vor ihr. Nur im Wasser. Sein Blick ruhte auf ihr. Nicht starr, nicht fordernd. Eher wie jemand, der lange gewartet hat, ohne zu drängen. Sie blinzelte, und das Bild löste sich in Wellen auf. Aber der Moment blieb.


Sie nahm die Postkarte aus der Jackentasche. Der Beweis, dass ihr Fernweh, das sie führte, kein Zufall war. Am Nachmittag machte sie sich auf den Weg. Ohne Ziel. Nur mit dem Gefühl, dass die Stadt ihr längst sagte, wohin. Sie ging langsam. Neugierig. Offen. Ein wenig nervös – wie vor einem Wiedersehen, von dem man nicht weiß, ob man erkannt wird. Die Gassen schienen zu atmen. Schatten tanzten an den Hauswänden, als wollten sie ihr etwas erzählen. Ein leichter Wind spielte mit einer Wimpelkette zwischen zwei Fenstern, irgendwo klirrte Glas, und ein Lachen hallte aus einem Hinterhof.


Dann kam sie in eine Straße, die heller wirkte als die anderen. Nicht vom Licht allein, eher vom Gefühl. Als würde die Zeit hier langsamer gehen. Ein kleiner Laden ohne Schild. Ein Fenster mit Spitzengardine. Ein Windstoß und ein Tuch flatterte von einem Balkon. Langsam. Wie eine Geste. Ein leiser Akkordeonklang, der durch eine offene Tür wehte. Das Pflaster unter ihren Sandalen uneben. Sie blieb stehen. Nicht weil etwas Besonderes passierte. Sondern weil alles in ihr das Gefühl hatte, dass genau hier etwas still wurde. Nicht leer. Nicht beunruhigend. Nur still – wie ein Moment, den man nicht mit Worten zerstören will.


Mitten in der Gasse. Tat keinen Schritt weiter. Nicht, weil sie zögerte – sondern weil alles in ihr plötzlich schneller wurde. Über ihr eine zerbrochene Fensterjalousie, dahinter ein alter Ventilator, der nicht mehr drehte. Und Wäsche. Weiße Hemden, eine blaue Bluse, ein ausgewaschener Pyjama. Alles hing. Zwischen Himmel und Erinnern. Die Bilder, die Gerüche, das Licht – zu viel auf einmal. Ein flüchtiger Schwindel stieg in ihr auf, nicht bedrohlich, eher wie ein Überlaufen von Gefühl. Halt suchend lehnte sie sich mit dem Rücken an eine Hauswand und spürte das grobe Mauerwerk durch das dünne Leinen ihrer Bluse.


Die Wärme des Tages hing noch in der Luft. Sie fühlte nach allem und nichts. Sie schloss die Augen. Da war dieser Geruch. Eine Mischung aus – nein nicht Brot. Sondern nach etwas Herzhaftem mit Kräutern, vielleicht Fenchel, vielleicht Thymian. Und Lavendel. Unverkennbar, etwas Lavendel und dem, was in Omas Flur in der Luft lag, wenn das Licht durch die Milchglasscheiben in die Küche fiel. Ein Hauch von Zitrone und alten Nachmittagen legte sich auf ihre Zunge. Was war das, was sie da schmeckte? Sie stellte sich die Frage, die wie ein kurzer Gedankenblitz in ihr auftauchte. Was war es? Satt harzig. Kräuter. Lavendel. Zitrone. Ein Geschmack, der sich plötzlich in ihrem Mund breitmachte. Eine Erinnerung, die sich durch den Körper ihren Weg bahnte, nicht durchs Denken, sondern übers Kosten. Nicht intensiv – eher wie ein Nachklang, den die Luft mit sich trug.


Vögel zwitscherten. Fröhlich. Erwartungsvoll. Und sie erinnerte sich: an diese frühen Morgen, wenn mit dem ersten Sonnenlicht das große Durcheinander begann. Als könnten sie es kaum erwarten, endlich wieder miteinander zu sprechen, als müssten sie alles hinausrufen, was sie in der Nacht gezwungenermaßen verschwiegen hatten. Ein aufgeregtes Miteinander, wie ein Marktplatz aus Stimmen, drängend, überlagernd, als hätte das Schweigen zu lange gedauert.


Sie öffnete die Augen. Vor ihr: das matte Schimmern der hellen Fassade auf der gegenüberliegenden Seite, feine Risse, in denen sich Licht brach. Ein Zitronenbaum im Nachbargarten, der seine Blätter wie kleine Spiegel drehte. Das Blau des Himmels war kein Postkartenblau – es war gelebter Himmel. Und doch fühlte sich alles an, als wäre es nicht das erste Mal. Ihre Wahrnehmung war bis ins Feinste geschärft, als hätte jemand den inneren Regler hochgedreht. Alles strömte ein, ungefiltert, tief. Und während sie dastand, spürte sie, wie ihr Herz schneller schlug. Eine Mischung aus Staunen „Kann das wirklich sein?“ und Gewissheit. Es war ein Rhythmus, zwischen Gestern und Jetzt. Zwischen Erinnerung und dem, was sich gerade fügte. Ein inneres Nicken.


Schließlich löste sie sich von der Wand, als hätte der Moment sich selbst beschlossen. Langsam trat sie zurück in den Tag. Nicht als Flaneurin, sondern als Teil von etwas, das sich gerade begann, zu fügen. Auf dem Weg zur Unterkunft gingen ihre Gedanken mit. Leise, aufgeregt, wie Kinder, die sich ein Geheimnis flüsternd teilen. Noch war nicht alles gesagt. Aber etwas in ihr wusste: Der Abend würde antworten.


Am Abend saß sie auf dem Platz vor dem Café. Trank etwas, das nach Anis und Mandeln schmeckte. Ein Glas auf dem Nebentisch geleert. Wind trug Gesprächsfetzen von irgendwoher. Und dann sah sie ihn. Er stand nicht weit entfernt. Lehnte an einem Geländer, als hätte er auf etwas gewartet, das sich fügt. Ihre Blicke trafen sich. Er lächelte nicht sofort. Aber da war ein Erkennen in seinen Augen, als würde er sie nicht das erste Mal sehen. Ein leichtes Nicken. Fast unsichtbar. Sie erwiderte es. Kein Wort fiel. Keine Handbewegung. Kein Schritt dazwischen. Nur der Moment. Eingehüllt in etwas Vertrautes.


Er kam näher. Langsam. Als hätte er gewusst, dass sie hier sitzen würde. Hinter ihr im Café klimpern Perlmuttschalen eines Windspiels. Gedämpft, als wäre auch hier der Lärm behutsam. Einen Schritt vor ihrem Tisch blieb er stehen. Sein Blick berührte sie, wie jemand der erkennt, was längst ihm gehört. Und in ihr war es, als würde etwas heimkommen. Nicht aus der Ferne. Sondern aus ihr selbst. Zurück durch seinen Blick. Sie hielt die Postkarte in der Hand. Er sah hin. Nur kurz, aber lange genug, um es zu verstehen. Sie spürte das raue Papier, die weiche Kante. Las gefühlt zum tausendsten Mal den Satz darauf: Für dich. Wenn du irgendwann wiederkommst. Es beginnt immer hier. Darunter ein schlichtes H.


Sie strich mit dem Daumen über die Buchstaben. Die Stadt ließ sie nie los. Weil sie selbst nie gegangen war. „Da bist du ja.“ Ruhig, fast wie zu sich. Sie lächelte. „War ich denn je weg?“


Gabriele Ela Schellinger


Epilogue

Dans le tableau de Chagall. Manche Städte schreiben sich nicht auf Landkarten. Sondern im Herzen. Nicht mit Grenzen, sondern mit Gefühlen. Es war nie nur ein Ort gewesen. Es war ein Takt, eine Frequenz, ein inneres Echo. Ein Flirren unter der Haut. Wie das Sonnenlicht, das durch geschlossene Lider fällt. Sie ging später durch die Gassen. Nicht eilig, nicht zielgerichtet. Mit einem Schritt, der wusste – der Weg war nicht neu. Nur das Verstehen. Der Himmel war inzwischen tiefblau und irgendwo am Horizont rief ein Vogel, wie zur Erinnerung, dass auch die Luft voll Erinnerungen sein kann.


Sie hatte keine Antwort gefunden. Aber das brauchte sie auch nicht. Denn es ging nie um die Lösung, sondern um das Ankommen im Ungefähren. Sie blieb stehen. An einer Ecke, wo das Licht noch warm war. Die Postkarte steckte wieder im Seitenfach ihrer Tasche. Nicht als Frage. Sondern als Zeichen. Ein Windhauch wehte Lavendel in ihre Gedanken. Und irgendwo, in einer anderen Zeit, war vielleicht gerade jemand dabei, den ersten Satz auf eine Karte zu schreiben.

Für dich.

Wenn du irgendwann wiederkommst.

Es beginnt immer hier.

„Manchmal frage ich mich, ob es einen Punkt gibt, an dem alles Sinn macht.

Ob es wirklich dieses eine Gleichgewicht gibt, das all meine Linien zusammenführt.

Oder ob ich nur auf eine Illusion zulaufe, einem Bild, das in der Ferne wie eine Fata

Morgana flimmernd verschwimmt.

Ich spüre, wie mein Leben sich immer wieder verzweigt.

Ein lose geknüpftes Netz aus Möglichkeiten und Sackgassen, aus scheuen Hoffnungen

und bohrenden Zweifeln, ein Geflecht aus Fragen, die mich manchmal halten und doch

so oft weiterdrängen.

Wo ist mein Fluchtpunkt?

Bin ich schon längst dort angekommen, ohne es zu merken?

Oder ist es nur ein ferner unbestimmter Gedanke, den ich mir einrede, damit ich nicht

stehen bleibe?

Manchmal glaube ich, dass ich selbst dieses sich spiegelnde Sammelbecken bin.

Dass all das, was ich erlebe, in mir zusammenläuft:

meine steten Ängste, meine verwegenen Träume, mein wankendes Zögern,

mein beherzter Mut.

Aber dann fühle ich wieder dieses Ziehen in mir.

Dieser ungestillte Hunger, der flüstert:

Geh weiter. Es gibt noch mehr.

Mehr als das Hier und als das Jetzt,

was du schon kennst.

Und ich frage mich:

Ist das mein Sehnsuchtsort –

dieser Wunsch nach Erfüllung,

der mich nicht loslässt?

Bin ich auf der Flucht vor,

oder auf der Suche nach mir selbst?

Ich spüre die Linien, die sich in mir kreuzen,

Tag für Tag ein neues Muster,

jede Begegnung ein unbekannter Winkel.

Manchmal fühlt sich alles so eng an,

als würde ich feststecken in meinen eigenen Fragen.

Dann ist da wieder dieser blitzende Moment,

in dem ich das Gefühl habe,

dass alles möglich ist –

dass ich nicht ankommen muss,

weil ich schon längst mittendrin bin.

Was, wenn das Zentrum nicht der Horizont ist, sondern ein Punkt in mir?

Was, wenn ich nicht weglaufe, sondern mich immer tiefer hinein bewege?

In mich, in das, was ich noch nicht kenne.

Es gibt Nächte, in denen ich alles infrage stelle:

Warum bin ich hier?

Wohin führt mich mein Weg?

Was verliere ich, wenn ich loslasse?

Was passiert, wenn ich schreie?

Und was finde ich, wenn ich still werde?

Vielleicht ist das die Achse, die alles trägt:

nicht irgendwo draußen, sondern in mir –

dort, wo ich mich selbst nicht mehr erklären muss.

Ein Ort, an dem ich alle Masken ablege.

Wo ich nicht mehr fragen muss,

sondern einfach bin.

Was, wenn es keinen Fluchtpunkt gibt –

nur verschiedene Wege, unzählige Augenblicke?

Vielleicht hat das alles nur einen Sinn:

mich selbst zu ertragen, ohne zu fliehen,

atmen, ohne zu wissen, wohin ich gehöre.

Und ich stelle mir die immer wiederkehrende

Frage:

Ist dieses Jetzt –

der Augenblick, in dem ich alles sein darf?

Weil ich nicht nur ahne, sondern ganz tief in mir spüre,

dass ich genug bin.“

„Der Asphalt zitterte vor Hitze.

Wie meine Haut.

Wie meine Kehle.

Wie das, was seit zwölf Jahren in mir liegt –

verschlossen, verkrustet, verschwiegen.

Ich stehe da.

Barfuß.

In einem zu leichten Kleid, das schwerer wird mit jedem Tropfen

Schweiß.

Der Himmel über mir schwarz –

nicht langsam, nicht drohend, sondern bereit.

Ein Gewitter steht in der Luft.

Und zwischen Allem.

Dann sehe ich sie.

Lea.

Zwei Schritte vor dem Feld.

Zwei Schritte vor meiner Stimme.

Sie trägt kein Lächeln. Nur Wind im Haar.

Und einen Blick, der fällt – zuerst auf den Boden, dann zaghaft in meine

Augen.

Nur einen Moment.

Dann weicht er zurück.

Die Luft flirrt.

Ein Windstoß greift in die Baumkronen.

Blätter wirbeln, tanzen – viel zu fröhlich für das, was kommt.

„Du bist also wirklich gekommen“, sagt Lea.

Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Ton.

Kein Vorwurf.

Kein Willkommen.

Nur ein Dazwischen.

Ich antworte nicht.

Ich wüsste nicht womit.

Meine Stimme steckt irgendwo zwischen Hals und Bauch fest.

Ein tiefer Donnerschlag.

Dumpf.

Wie mein Herz, das gegen Schuld schlägt.

Meine Hände ballen sich. Dann öffnen sie sich wieder.

Der Druck unter meinen Fingernägeln hilft, nicht zu schreien.

Nicht zu rennen.

„Ich wusste nicht, ob ich dich anschauen kann“, sage ich schließlich.

Lea senkt den Blick.

Ein Schritt näher.

Zögerlich.

Ein Fuß im Matsch, der zweite auf trockenem Staub.

Wie zwischen zwei Welten.

„Ich wusste nicht, ob ich’s ertrage, wenn du’s tust“, murmelt sie.

Die ersten Tropfen fallen.

Groß. Schwer.

Sie platschen auf die Erde, als wollten sie etwas schlagen.

Gnade gibt es keine.

Ein Blitz.

Und dann –

ein Augenblick lang: Licht auf beiden Gesichtern.

Schweiß. Tränen. Ich weiß nicht, was wozu gehört.

„Warum bist du damals gegangen, Lea?“

Meine Stimme ist rau.

Nicht laut. Aber sie zerschneidet das Schweigen wie eine Rasierklinge.

Lea schluckt.

Ihre Hände zittern.

Sie streckt sie kurz aus, als wolle sie etwas sagen. Dann lässt sie sie

wieder sinken.

Wie ein Geständnis, das zu schwer ist für Worte.

„Weil ich’s wusste“, sagt sie.

„Weil ich’s gesehen hab. Weil ich gespürt hab, was war. Und trotzdem

geschwiegen.“

Ein Rauschen geht durch das hohe Gras.

Der Himmel schlägt ein zweites Mal zu.

Laut.

Nah.

Wir zucken beide zusammen –

dieselbe Bewegung.

Dieselbe Angst.

Ein Echo von früher.

„Er hat … er hat mich angefasst!“

Ich sage es.

Endlich.

Nicht als Frage.

Als Öffnung.

Lea hebt den Blick.

Zum ersten Mal wirklich.

Ihre Augen sind leer – nicht von Gefühl, sondern von Überleben.

„Ich hab’s gesehen. Ich hab’s gewusst.

Dein Blick, wenn du von der Küche kamst.

Dein Schweigen nach dem Lachen.

Deine Hände, die immer etwas hielten, als müsstest du dich festhalten,

um nicht zu fallen.“

„Und du …“

Meine Stimme bricht.

„… hast nichts gesagt.“

Lea tritt einen Schritt näher.

Dann noch einen.

Ihre Hände zittern.

Ihre Knie auch.

Aber sie bleibt stehen. Direkt vor mir.

„Ich war sechzehn, verdammt.

Ich hatte Angst, dass du mich hasst, wenn ich’s sag.

Ich hatte Angst, dass ich Unrecht hab.

Und ich hatte noch mehr Angst, dass ich Recht habe.“

Ein weiterer Donner.

Kein Knall mehr.

Ein Brüllen.

Als würde der Himmel selbst schreien, was niemand damals sagte.

„Ich hab mich so schmutzig gefühlt, Lea.

So allein. So verkehrt.

Ich hab gedacht, ich hab’s verdient.“

Lea weint jetzt.

Offen.

Still.

Keine dramatischen Tränen –

nur Flüsse, die ihren Weg endlich finden.

„Ich hab dich im Stich gelassen“, flüstert sie.

„Ich hab mich weggeduckt.

Ich hab dich allein gelassen mit einem Sturm,

den ich hätte teilen sollen.“

Wir heben gleichzeitig die Hände –

keine Umarmung.

Aber ein Berühren der Finger.

Zitternd.

Suchend.

So, als prüften wir, ob das noch geht:

Kontakt.

Verbindung.

Wahrheit.

„Ich schreib seit Jahren über dich“, sage ich.

„In Gedichten. In halben Sätzen.

Du bist überall. Nur nicht hier.“

Lea nickt.

Dann sieht sie zum Himmel.

Der Regen hat nachgelassen.

Die Tropfen tropfen nur noch von unseren Wangen.

„Schreib über uns. Wenn du willst.

Oder … sprich mit mir.“

Wir stehen so da.

Inmitten von Pfützen, Erinnerung und Erlösung.

Keine Umarmung.

Kein Vergeben.

Aber ein Raum, in dem es wieder möglich ist, zu atmen.

Der Himmel über uns ist nicht mehr schwarz.

Aber auch nicht blau.

Ein Dazwischen.

Wie wir.

Und vielleicht ist das genug.

Für einen ersten Schritt.“

Mit 20 minütiger Verspätung fährt der Zug endlich in den Bahnsteig ein. Das Thermometer an der roten Ziegelwand im Bahnhof zeigt stolze 35 Grad. Kopfschüttelnd lache ich kurz ironisch auf, als auf der Anzeigetafel meines Gleises „ICE 375 von München - Hamburg/ Altona“ geht pünktlich auf Gleis 7“ steht.

Das ich mit dem Zug fahre, hat absoluten Seltenheitswert und ist eher die Ausnahme, als die Regel. Ehrlicherweise muss ich zugeben: Ich mag Zugfahrten nicht. Ich empfinde Züge als voll, hektisch, stickig, dreckig. „Typisch, aussen bullenheiß und die Klimaanlage hat sich auch schon in die Ferien verabschiedet. Hallo sie funktioniert nicht“ grummel ich vor mich hin, als ich meinen Koffer in das Gepäcknetz über meinen Sitzplatz hieve. Selbst mir klebt mein leichtes Tanktop unangenehm verschwitzt auf meiner Haut und meine Jeansshort kneift, als ich mich setze. Die mit billigem, abgewetzten Stoff überzogenen Sitze sehen auch nicht gerade einladend aus. „Wer in Dreigottesnamen klebt Kaugummi mitten auf die Rückenlehne, neben meinem Platz“ schüttel ich angeekelt meinen Kopf.


Als ich Platz genommen habe, blicke ich mich um. Ich teile mein Abteil mit einer jungen Frau, welche Kopfhörer trägt, aus denen leise irgendwas mit - summer in the city - dringt und sie dabei im Takt der Musik rhythmisch mit dem Kopf nickt und ihrem rechten Fuß wippt. Ihre Augen sind geschlossen. Und einer Nonne, welche mir schräg gegenüber sitzt. Ihr Anblick ist in dieser stickigen Hitze fast surreal. Sie trägt die traditionelle Kleidung, volles Ornat. Schwarzer knöchellanger Kittel, mit einem hohen steifen weißen Kragen. Dicke graue Wollstrümpfe stecken in klobigen, schwarzen Schuhen. Ihre angegrauten Haare hat sie sorgfältig unter einer hellgrauen Haube verborgen, nur mit zwei schlichten Haarnadeln festgesteckt. Ihr Gesicht ist von feinen Linien gezeichnet und um ihre ungeschminkten, grauen Augen bilden sich Lachfältchen, als sich unsere Blicke treffen und sie mir freundlich zunickt. Ein schlichtes Kreuz, welches sie an einer Kette trägt, liegt flach vor ihrer Brust. Eine große braune, abgegriffene Reisetasche, die Nähte an den Kanten sind leicht ausgefranst, hält sie mit ihren beiden runzligen Händen fest auf ihrem Schoß. Mein Blick fällt auf einen Siegelring, welcher ihren rechten Ringfinger ziert. Ich kann nicht aufhören sie anzustarren. „Wie hält sie das bloß aus, ihr muss doch schrecklich heiß sein, die muss doch kaputtgehen“, frage ich mich.


„Darf ich sie etwas fragen?“ Meine Stimme ist zögerlich, fast entschuldigend. Sie nickt und sieht mich aufmerksam an. „Ist ihnen nicht furchtbar warm?“ Zu meiner Überraschung lacht sie laut auf. Sie hat ein helles, ungewohnt für ihr Alter, junges unbeschwert klingendes Lachen. „Ach wissen sie, wenn ich gehe, dann schwingt mein Rock und bauscht sich um meine Beine auf und ein Luftzug schlüpft darunter. Und da meine Haare unter der Haube feststecken ist auch mein Nacken frei. Das ist dann schon sehr angenehm.“ Mein Blick fällt auf ihren Nacken. Dort wo die Haut hervorschaut, kringeln sich kleine verschwitzte Härchen.


Wir kommen ins Gespräch. Plaudernd erzählt sie mir mit klarer, freundlicher Stimme, dass sie auf dem Heimweg von einer Pilgerreise in Rom zurück in ihr Hospiz ist, in welchem sie lebt. Und das sie noch total erfüllt sei, von dem, was sie in Rom erlebte. Sie beschreibt die besonderen Orte, die sie besucht hat, die Menschen denen sie begegnet ist und die Momente, die ihr Herz berührten. Ein reger Austausch zwischen uns beiden entsteht und lässt die Zeit wie im Flug vergehen.


Plötzlich wie aus heiterem Himmel, öffnet sie entschlossen den Schnappverschluss ihrer braunen Tasche und kramt ein klarsichtiges Zellophantütchen hervor, worin sich mehrere silberne Anhänger - Marienbildnisse aus einfachem Blech gefertigt, befinden. „Diese hier habe ich weihen lassen“. Mit den Worten und einem sanften Lächeln überreicht sie mir spontan einen der zierlichen Anhänger. „Hier bitte, dass ist für sie, das möchte ich ihnen gerne schenken.“ „Mir?“ frage ich ungläubig. „Ja, ihnen.“ „Aber weshalb?“ Ihre Augen strahlen eine Wärme aus, die meine Frage beantwortet, noch bevor sie spricht. „Ich mag sie, und wenn es soweit ist und sie je Hoffnung brauchen, dann denken sie an mich, während sie es ansehen, berühren, vielleicht bei sich tragen.“


Ich bin - was selten genug passiert - sprachlos. Der kleine Anhänger fühlt sich in meiner Hand leichter an, als ich erwartet habe. Doch die Geste - ihre Worte, ihre Güte - trägt ein Gewicht, das ich kaum in Worte fassen kann. Seit diesem Tag trage ich den Anhänger bei mir. Er ist ein Teil einer Sammlung geworden, die für mich einen unschätzbaren Wert hat. Bestehend aus

  • einem Tuchfetzen von Padre Pio. Seine Blutwunden bewahre ich geschützt in einem Amulett.
  • einem goldenen Kreuz, welches ich von meinem Papa anlässlich meiner Kommunion bekam.
  • einem gravierten Kreuz, welches mir meine Oma mitbrachte, als ich sehr krank war.


Diese Schätze sind in ein unscheinbares, verblichenes rotes Samtsäckchen eingenäht. Und wird Tag für Tag dicht an meinem Herzen, versteckt in meinem BH getragen. Ohne dieses Säckchen, gefüllt mit Symbolen für die Liebe zu mir, Hoffnung schenkend, strahlend, fühle ich mich nicht vollständig, sogar verloren. Diese Nonne schenkte mir in Form eines silbernen, geweihten Blechanhängers, mit dem Bildnis einer Marienfigur etwas so unbeschreiblich Kostbares. Mit einem offenen Herzen, ein Stück ihrer reinen Seele, nur um mich zu beschützen. Mir, einfach so …!

Schwarz-weiß lag die Welt um sie, starr wie ein Moment, der den Atem anhält. Sie stand da, aufrecht, den Blick in die Ferne gerichtet. Der schwarze Hut, der feste Griff um den Schirm – all das wirkte wie eine Rüstung. In ihrer linken Hand hielt sie eine schwarze Aktentasche aus gegerbtem Leder, abgegriffen vom täglichen Gebrauch. Ein feiner Riss zog sich an der Unterseite entlang, genau an der Naht, die sie schon so oft hatte nähen wollen – und es immer wieder vergaß. Die Tasche wirkte, als hätte sie Geschichten zu erzählen, von langen Wegen und kleinen Fluchten. Sie gehörte zu ihr, so sehr wie der Schirm in ihrer Rechten.


Ein feiner Regen legte sich auf ihren Mantel und den Schirm. Er veränderte die Luft, eine leise Erinnerung daran, dass auch scheinbar unbewegte Momente lebendig sind. Sie spürte, wie sich in der Stille etwas regte – fast unmerklich, aber da. Hinter ihr graste eine Kuh, gleichgültig, als sei es nur ein weiterer Tag. Kein Mythos, kein Rätsel – nur das Leben, das weiterging, so schlicht wie es war.


Doch in ihr arbeitete etwas. Ein Druck in der Brust, ein Gedanke, der nicht weichen wollte. Ihre Augen wanderten von der Kuh zum grauen Horizont, als suche sie dort eine Antwort, die sich nicht zeigte. Vielleicht war es keine Angst. Vielleicht nur der Zweifel, ob sie schon bereit war, einen Schritt zu gehen. Was, wenn sie einfach stehenblieb? Wenn dieser Moment, so unbewegt er schien, doch alles veränderte? Zwischen gestern und morgen lag kein Versprechen, nur ein schmaler Grat. Und sie wusste: Es lag nicht an der Welt, sondern an ihr selbst. An dem, was sie in sich trug. Und in der schwarzen Aktentasche, die sie nicht losließ.


Ein Windstoß zerrte an ihrem Mantel, erinnerte sie daran, dass auch Stehen eine Entscheidung war. Und sie wusste: Sie würde nicht daran zerbrechen. Nicht heute.

„19 Uhr Nachrichten. Ein Beitrag zur Loveparade. 

Ohne genau hinzuschauen sagt mein Vater: 

„In unserer Familie gibt’s sowas nicht.“

Die Gabel in meiner Hand zittert kurz.

Ich leg sie hin, als wär das Besteck schuld.

Meine Mutter räumt ab. Schweigend.

Ich bleibe sitzen. Ganz still.

Nur das Kreuz über der Tür schaut mich an.


Später schleiche ich in den Flur.

Vierzehn Stationen hängen da.

Der Kreuzweg.

Ich geh sie ab. Langsam.

Eins. Zwei. Drei.

Jede ein Bild.

Jede ein Urteil.


Ich schlage zu.

Auf die Brust. Den Bauch. Den Oberschenkel.

Immer da, wo es niemand sieht.

Wo nur ich es spüre.

Wo es zählt.


Erster Schlag: Ich hab so gefühlt.

Zweiter: Ich hab nichts gesagt.

Dritter: Ich bin noch hier.

Vierter: Ich will nicht mehr sein.


Ich bete nicht.

Ich schlage.

Mit allem, was ich nicht sagen darf.

Mit allem, was ich bin.

Mit allem, was sie nie lieben werden.


Ich bin vierzehnmal falsch.

Und das Kreuz sieht zu.

Still.

Wie immer.“

Wenn die Kompassnadel stillsteht


„Manche Geschichten beginnen nicht mit einem Ereignis,

sondern mit einer Hoffnung.

Ella trug sie tief in sich –

eine Sehnsucht, die mit jedem Tag wuchs.

Von Anfang an liebte sie ihren Sohn.

Sie sprach mit ihm,

sang ihm ihre Lieblingslieder vor

und erfand kleine Geschichten,

in denen er der Held war.

Der Held ihres Herzens.


Oft tanzte sie mit den Händen auf dem Bauch durchs Wohnzimmer,

stellte sich vor, wie er lächelt,

wie er ihre Stimme erkennt.

Dass er ihre blauen Augen hätte,

ihr Lachen.

Ihr Temperament.

Sie konnte es kaum erwarten, ihn zu sehen,

ihn zu halten, ihm die Welt zu zeigen.


Doch während in ihr das Leben wuchs,

veränderte sich etwas um sie herum.

Ihr Mann –

der ihr noch vor Monaten sagte,

dass er sich nichts mehr wünsche als eine Familie –

wurde abwesend,

kalt.

Telefonanrufe, bei denen plötzlich aufgelegt wurde.

Ein Flüstern, wenn sie ihn am Telefon hörte.

Abende ohne Kuss.

Ohne Blick.


Und Ella spürte:

Etwas zerbrach.

Ein Misstrauen wuchs in ihr,

leise, aber stetig.

Sie fuhr nachts los,

um nicht im eigenen Schweigen zu ertrinken.

Nicht aus Kontrolle,

sondern aus Angst,

ganz allein zu sein

mit dem, was unausgesprochen zwischen ihnen lag.


Dann kam die Nacht.

Die Blutungen.

Die Panik.

Die Fahrt ins Krankenhaus.


Ein Gurt wurde um ihren Bauch gelegt.

Geräte piepten.

Steriles Licht.

Und dieser Satz:

„Es sind keine Herztöne mehr zu hören.“


Was danach kam, war ein Nebel.

Ihr Körper leer.

Ihr Blick leer.

Und doch übervoll mit Schuld.

„Ich hab dich verloren, mein Sohn.“

„Ich hab nicht genug gekämpft.“


Von da an sprach sie nicht mehr darüber.

Es gab keine Sprache für das, was sie in sich trug.


Und sie traf eine Entscheidung:

Nie wieder.

Nie wieder schwanger.

Nicht aus Angst vor Schmerz –

sondern aus Strafe.

Weil sie glaubte,

ihr Recht auf Hoffnung verwirkt zu haben.

Diese eine Chance –

verspielt.

Verloren.


Mein Papa sagte oft:

„Vertrau deinem inneren Kompass.“

Aber ihr Kompass schwieg.

Zeigte keinen Weg.

Nur ein leises Zittern.


Auch Dreißig Jahre später zündet sie immer noch eine Kerze an –

nicht an seinem Geburtstag,

den es nie gab,

sondern an dem Tag,

an dem sie wusste: Er ist da.


„Du fehlst mir.“

„Ich stelle mir vor, wie du aussiehst.“


Und vielleicht ist das

ihre Form von Mutterschaft.

Eine, die niemand sieht.

Aber die sie jeden Tag spürt.“

1.
Heute ist ein Tag wie jeder andere Tag. Morgenritual: Ferro, my best Buddy, ein 32 kg schwerer Magyar Viszla, jumpt wie jeden Morgen, wir brauchen keinen Wecker um wach zu werden, mit einem Sprung in unser Bett, schubbert sich einmal quer über die Zudecke und freut sich so, als hätte er uns monatelang nicht gesehen. „Solch eine Lebensfreude, du scheinst gut geschlafen zu haben. Guten Morgen du Spinner“ lache ich ihm leise zu und wuschle seinen Kopf. Mein Mann grummelt „bester Viszla“ und dreht sich noch für fünf Minuten auf die Seite. „Möchtest du raus?“. Ferro sprintet zur Terrassentür, während ich noch ziemlich schlaftrunken hinter ihm her trotte, um ihn in den Garten hinaus zu lassen, damit er den nächsten Baum wässern kann. „Ja, ich mach ja schon auf, warte bitte, Frauchen ist doch kein D - Zug, ich muss erst einmal aufsperren“. Mr. Ungeduld gebärdet sich wie ein Derwisch vor der noch verschlossenen Tür „hast es wohl eilig deinen Garten zu markieren, du tust so, als wärst du monatelang in einer engen Kiste eingesperrt gewesen“. Aber, wer weiß, wer sich in der Nacht unerlaubterweise in seinem Revier aufgehalten hat. Womöglich Nachbars dreistfreche Katze? Tür offen, Hund raus. Währenddessen Ferro die Obstbäume zu seinem Eigen macht, mache ich mir einen Milchkaffee, welchen ich mir heute in meiner großen Smileytasse zu Gemüte führe. Mir ist heute irgendwie nach Smiley. Heute ist ein Tag wie jeder andere Tag. In Ruhe Kaffeetrinken - „geht doch nichts über einen leckeren Cafe con leche am Morgen“ nippe ich genüsslich am ersten Schluck meines heißen Lieblingsgetränkes, um wach zu werden, Mails dabei checkend „Ey cool ‚Ibizacode‘ öffnet in einer Woche seine Pforten aus der Winterpause“ gebe ich entzückt von mir, als ich die Message in meinem Posteingang lese. Ibizacode ist einer meiner Lieblingsläden auf der Insel. Um noch munterer zu werden, nehme ich eine Dusche, welche ich abschließend immer ala Kneipp mit kalt beende. Wechselduschen sollen ja angeblich den Körper straffen, na dann, Augen zu und durch. „Brrrhhh, was tut der Mensch nicht Alles“ stöhne ich, als ich nach meinem großen Badetuch greife, um mich wieder trocken und warm zu rubbeln. Abschließend alltägliche Pflegeroutine und weiter gehts. Hundegassigehklamotten an, Ferro ins Auto packen, um zum 2 km entfernten Cala Bassa Playa zu fahren, damit Ferro unser Energiebündel, seinen ausgiebigen Gassigang erhält. Ich schmunzle, als er kaum aus dem Auto „entlassen“, ungestüm zum Strand piest, um erst über den trockenen Sand und dann durchs flache Wasser zu hetzen. „Das macht Spaß, gell“ rufe ich ihm lachend hinterher. Am Ufer entlang geht es Richtung Pinienhain. Ferro kennt den Weg, ich folge ihm, während er schnüffelnd eine Fährte nach Hunden, welche schon vor ihm hier entlangliefen, Conejos oder Lagartos die Schnauze tief am Boden - Jagdhund like, aufspürt. Schlendernd nehme ich die Umgebung in mich auf. Ich liebe es den ersten Sonnenstrahlen zuzusehen, welche auf den Wellen glitzernd tanzen. Selbst die Quallen, heute scheinen es durch die Strömung in die Bucht getrieben Hunderte zu sein, welche heute das Ufer im flachen Wasser besiedeln, stören mich nicht. „Ihr seid wunderschön und graziös, wie ihr hier rumdümpelt, aber streicheln möcht‘ ich euch trotzdem nicht“ beobachte ich sie vor mich her murmelnd. Und mache ein Foto von einer besonders schönen, eleganten Medusa. Ausser mir ist nur noch die junge Frau am Strand, welche ihren Yogakurs vorbereitet, der hier täglich stattfindet. Wir nicken uns lächelnd zu „Buenos dias, che tal?!“ Mein Weg führt hoch zu den Klippen, vorbei an dichten wilden Rosmarinbüschen, Thymiangestrüpp, hohen Kiefern, über einen mit Piniennadeln bedeckten von Steinen zerklüfteten Boden, welcher unter meinen Stiefeln knistert. Den Blick rechts auf‘s Meer und den Strand der hinter mir liegt, gerichtet. „Mmmhhh, was riecht das gut“ schnupper ich die reine Luft einatmend, welche mit einem zart blumigen Geruch verfeinert ist. Ein letzter Schritt noch und ich sehe durch dichtes Gestrüpp und typisch rotblühenden Oleandersträuchern eine unendliche Weite vor mir. Blau, soweit mein Auge reicht, stahlblauer Himmel, tiefblaues Meer, entfernt streiten sich Möwen um einen Fisch. Solch ein Licht… Hier steh ich nun am Rand der Klippen, eine große, blonde Frau, von ihren Gefühlen übermannt, deren Haare vom Wind zerzaust werden. Mit Wissen ohne Zeit und Raum. Eine Erinnerung, wo auch immer sie gerade herkommt, flutet wie Brandung über die Klippen, heran. „Weshalb denke ich gerade hier und jetzt an das lindgrüne Zimmer?“ Ich beantworte mir meine eigene Frage selbst. „Ich weiß es. Es ist die Sonne. Es ist das Licht. Es ist der Wunsch nach Blau“. Schon immer gewesen. Im hier und jetzt.“


2.

Im Zimmer. Im Zimmer flackert die Leuchtstoffröhre an der Decke. „Wer hat dieses unsäglich grelle Licht angelassen?“ Meine Augen brennen. Ich habe keine Kraft mehr. „Was wäre so schlimm, wenn ich gehe, auch gehe“? „Wenn ich sterbe, auch sterbe?“ Mein Körper ist krank, mein Geist ist wach. Mir geht es gar nicht gut. Die dritte Infusion für heute, tropft unablässig aus einem milchigtrüben Plastikbehälter und rinnt klar, gleichmäßig, unablässig in einem dünnen Schlauch, durch die Nadel in die Vene meines linken Armes. Meine Arme sind dünn, fleischlos, unmuskulös, pergamentartige Haut über Knochen. Die Venen sind wie dunkle Schnüre sichtbar. Ich habe mir immer gewünscht, rank und schlank zu sein. Jetzt ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen. „Man sollte sich immer zweimal überlegen, was man sich wünscht, oder seine Wünsche Wort für Wort detailliert formulieren“ sinniere ich meinen Arm betrachtend. Ich traue mich nicht den Arm zu bewegen, geschweige denn ihn anzuwinkeln. Zu groß ist die Angst, dass die Nadel abbricht. Ich mag keine weiteren „Baustellen“. Jetzt lieg ich hier in diesem Zimmer, alleine, zum Glück. Ich mag keine fremden Menschen um mich. Keine „auch kranke Menschen“ um mich. Kranke Menschen haben immer das Bedürfnis über ihre Krankheiten zu lamentieren und sich teilweise sogar noch zu überbieten. „Was, du hast XY? Das hab ich auch, aber ich hab auch noch Z und A und K dazu“… Gruselig. Als ob es nicht schon schlimm genug ist, krank zu sein. Die Wände sind lindgrün gestrichen - hässlich. Warum nicht in einem schönen Blauton. Blau ist meine Lieblingsfarbe. Oder bunt. Bunt wie das Leben, welches doch noch mit meinen gerade einmal 28 Jahren vor mir liegen soll. In der oberen linken Ecke, über dem zweiflügeligen Fenster, welche sich nicht öffnen lässt, nur kippen. „Selbst das Fenster verhindert eine Flucht“, erscheint ein vorbeihuschender Gedanke, müsste mal wieder gestrichen werden. In dieser oberen linken Ecke bröckelt der Putz ab. Eine kleine Spinne liegt auf der Lauer. Nur ich kann sie von der Stelle meines Bettes, in welchem ich liege, sehen. Ich bin so müde. Mama war heute wie jeden Tag hier. Oder war es gestern? Sie weint viel. Und betet, obwohl sie doch nie so gläubig war. Ich habe in diesem lindgrünen Zimmer jegliches Zeitgefühl verloren. Ich blicke unbeeindruckt auf das Kreuz, welches über der Tür hängt. Mir ist heiß. Es ist dunkel draußen, erkenne ich durch das zweiflügelige, nun fest verschlossene Fenster. „Muss wohl eingeschlafen sein“ gähne ich, ohne die Hand vor den Mund zu halten, was Papa als echte Unart ansah. Der Infusionsständer steht wie ein stummer Diener neben meinem Bett. Ohne milchigtrüber Infusionsflasche. Nur die Nadel, mit einem weißen Pflaster fixiert, steckt noch in meinem Arm. Der Ärmel meines Herzerlpyjamas - ich habe ein Faible für Herzen - ist nach oben gekrempelt. Er ist das einzig fröhliche in diesem Zimmer. Ich schließe meine Augen. Ich bin erschöpft von meinem täglichen Kampf, gegen diese hinterhältige Krankheit. Dabei will ich doch gar nicht mehr kämpfen. Für mich jedenfalls nicht. Für Mama, meine Familie und Freunde, ja. Darf nicht gehen. Man lässt mich nicht gehen. Darf nicht sterben. Man lässt mich nicht sterben. Nicht nachdem, was mit Papa geschah. Papa ist seit zehn Jahren tot. Ich bin so müde. Die Medikamente tragen ihre Mitschuld. Bin ich wach oder träume ich? „Papa“, meine Augen füllen sich mit Tränen, meine Nasenwurzel brennt. „Papa, da bist du ja“. Papa steht in der Tür unter dem Kreuz. Und breitet seine Arme aus. Wie Jesus, auf dem Bild, als er das letzte Abendmahl verkündet. Oder wie der Pater aus unserer Kirche, bevor er am Altar die Hostie über dem Wein bricht. „Papa“ atme ich leise. „Alles wird gut“, „Alles wird gut“ flüstert es mit der sonoren Stimme meines Vaters in meinem Kopf „Alles wird gut“! „Papa, bleib, Papa …! „Alles wird gut“. Am nächsten Morgen wache ich auf „Hi, Trudi, wie war deine Nacht“ lächle ich meiner Zimmergenossin zu, welche unterdessen ein kunstvolles Netz in der oberen linken Ecke des hässlich lindgrünen Zimmers gesponnen hat. Die Sonne sucht sich einen Weg durch die halbzugezogenen Vorhänge. Es wird Licht. Und ich fühle mich gut.


3.

Nun steh ich hier oben, um mich herum Blau. Spüre die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht. Atme tief ein und plötzlich treten mir Tränen in die Augen, nicht vor Traurigkeit, sondern vor purem reinem Glück. Hier auf den Klippen, mit dem Blick auf die Welt, die vor meinen Füssen liegt. Mein Herz öffnet sich für die innere Ruhe, welche mich erfasst, erfüllt von tiefem Frieden. Mein Herz ist so dankbar, hier sein zu dürfen. Ich weine, lächle und halte diesen Augenblick für immer tief in mir fest. „Namaste“. Gib niemals auf. Das Leben ist schön. 32 Jahre später … ich bin immer noch hier. Heute ist ein Tag wie jeder andere.

Als ich Peter das allererste Mal sah, dekorierte er hinter einer großen Schaufensterscheibe eines bekannten Warenhauses, einen Esstisch aus Holz mit kunterbuntem Essgeschirr, und dachte noch so beiläufig „Hhmm wie scheußlich, das passt ja so gar nicht zusammen“, aber über Geschmäcker kann man ja seit Urzeiten streiten. Ich stand nur da - und hoffe heute noch inständig, dass mein Mund geschlossen war: baff, perplex, hin und weg. Mein Traummann! Etwa 185 groß, hellbraun gewellte Haare, welche süß zerstrubbelt auf einer Seite hochstanden, cool mit Levis Jeans und T-Shirt ala James Dean. Und mit den tollsten Händen, welche ich je gesehen habe: stark, kräftig und doch mit so sensiblen Klavierspielerfingern, welche in dem Moment das bunte, leicht zerbrechliche Porzellan vorsichtig drapierten. Was um ihn herum, ausserhalb des Schaufensters passierte, nahm er nicht wahr.


WER IN DREIGOTTESNAMEN IST DAS?

Ich wusste, so wahr ich hier sitze und schreibe: ich musste unbedingt seine Aufmerksamkeit gewinnen. Oder ich würde mein Leben lang in unerfüllter Neugier dahindarben. In Heilig-Drei-König und heiliger Strohsack – wo kam dieser Wunsch diesen Typen mit den schönsten Händen der Welt unbedingt kennenlernen zu wollen, denn bitte plötzlich her?! Als hätte mir Amor höchstpersönlich einen Pfeil in den Hintern geschossen. Und nicht zaghaft. Nein – zielsicher. Mit Anlauf.


Wollte ich etwa gleich Kinder mit ihm kriegen? Na, ganz bestimmt nicht. Ich war sechzehn, nicht bescheuert. Oder lag’s daran, dass ich einfach mal selbst entscheiden wollte, wer mein Freund sein sollte – nicht der Typ aus der Parallelklasse, der ständig „Grüß Gott“ sagte, als wär er fünfzig, nicht der Schwarm meiner Freundin, den sie doch eh nie ansprach, und ganz sicher nicht der, den Mama mit einem „Der kommt aus einer guten Familie, der ist doch nett“ vorschlug. Ich wollte keinen, der auf dem Papier passte. Ich wollte ihn. Vielleicht, weil er so ganz anders war. Vielleicht, weil ich bei seinem Anblick das Gefühl hatte, dass ich plötzlich anders sein könnte – mutiger, entschlossener, verrückter. Oder vielleicht wollte ich einfach nur wissen, wie es sich anfühlt, nicht nur von einem Typen zu träumen, sondern ihn sich selbst auszusuchen. Was auch immer es war – ich wusste nur: Ich muss etwas gegen diese akut auftretenden Wackelpuddingknie machen. Ein Plan musste her.


Glücklicherweise lebte ich in einem Seelendorf mit 40.000 Leuten ganz oben in Bayern, wo jeder jeden kennt – ob man will oder nicht. Claudia eine gute Freundin, Berufsstand Verkäuferin in der Damenoberbekleidung eben dieses Warenhauses, wusste mit Sicherheit, wer ER ist. Ich, kurzentschlossen rein in den Laden, die Rolltreppe hochsprintend in die erste Etage, Abteilung DOB um nach Claudia Ausschau zu halten. Weit und breit jedoch keine Claudia. „Arbeitet Claudia heute nicht oder hat sie gerade Pause?“ „Claudia hat seit heute eine Woche Urlaub.“ Diese Info, war das Letzte, was ich von Claudias älteren Kollegin, welche hinter der Kasse stand, hören wollte. Wie sollte ich eine Woche durchstehen, um an die wichtigste Information meiner gerade 16 gewordenen jungen Jahre zu kommen? Das steh ich niemals durch. Die Kassiererin nach diesem 5 Sterne Typ im Schaufenster zu fragen, traute ich mich allerdings auch nicht. Warum kann nicht einmal in meinem Leben Etwas sofort klappen. Eine ganze Woche unwissend bleiben … oder ganz schlimm, ich sitz noch mit 80 da und frag mich, wer dieser Typ im Schaufenster war. Welch gruselige Vorstellung. Ein neuer Plan musste her.


Im Stadtbus, auf dem Weg nach Hause ging ich alle Bekannten, Klassenkameraden und Freunde in meinem blonden Wuschelkopf durch „wer könnte IHN kennen?“ Zeitverschwendung war noch nie mein Ding.


„Na, wie war‘s in der Schule, hast du Hunger, hast du Hausaufgaben auf, stell bitte deine Schuhe auf den Läufer und wasch dir die Hände bevor du dich an den Tisch setzt.“ „Mama, ein Brot reicht mir, ich muss mich auch gleich an diese Physikübungen machen, wir schreiben morgen bestimmt eine Ex, einen unangekündigten Test, die Höfer ist doch immer so ultrapingelig, ich geh gleich auf mein Zimmer und lerne.“ „Du setzt dich jetzt ordentlich an den Tisch und isst vernünftig, mit etwas Gutem im Magen lernt es sich noch viel besser.“ Wenn die wüsste, was ich eigentlich vorhabe, würde sie mich am Esstisch Physik büffeln lassen. Mit meinen Gedanken bei einem lässigen Hünen, nahm mein neuer Plan so ganz langsam Formen an, während ich das vorgesetzte Wiener Schnitzel kaute und den Kartoffelsalat gedankenverloren in mich hinein schaufelte.


Am nächsten Morgen, und einer überraschend gut durchschlafenen Nacht auf dem Weg zur Schule, erzählte ich meiner aller-allerbesten Freundin Petra – mit der ich schon seit der ersten Klasse befreundet war und mit der ich unsere tiefsten Geheimnisse seit Urzeiten teilte, die ja noch gar nichts von IHM wusste – ALLES!!


Petra, immer sehr pragmatisch und direkt, meinte sofort „sprech’ ihn doch einfach an und frag ihn, wie er heißt … .“ Genau, ich geh hin, klopf an die Scheibe und frag ganz cool „wie heißt`n du?“ Gehts noch blöder. Wobei mein Plan schon so ein wenig, in diese Richtung tendierte. Erst einmal ein wenig beobachten. Und Blickkontakt suchen. Und dann lächeln. Und dann „hy“ sagen, … wenn er reagiert.


Aber mal ehrlich – wie hätte er mich nicht bemerken sollen? 178 cm geballte Teenie-Hoffnung, weizenblonde Mähne im Wind, eine halbwegs anständige Figur (danke, Turnunterricht) – und das Ganze verpackt in eine enge Bluejeans und einen hellblauen Pulli, der zufällig genau meine Augenfarbe traf. Also bitte. Wobei … ehrlich gesagt war ich mir selbst nicht ganz sicher, ob ich gerade wahnsinnig cool oder einfach nur komplett überdreht wirkte. Aber hey – auffallen ist auffallen, oder?


Direkt nach der Schule, ging ich mit Petra im Schlepptau schnurstracks zum Ort des Geschehens. Und da war er wieder, der Mann meiner bis dato unerfüllten Träume. Diesmal im Nachbarfenster um hochkonzentriert einer Schaufensterpuppe die Blöße zu nehmen, und sie mit einem blassgelben Kleid anzuziehen. Petra kicherte kindisch und flüsterte hinter vorgehaltener Hand „von dem würd’ ich mich lieber ausziehen, als anziehen lassen.“ Und hob doch tatsächlich ihre Hand um ihm zuzuwinken. Die doofe Kuh, sie steht doch sonst eher auf dunkelhaarige Typen, wie Guiseppe den Sohn unseres italienischen Eisdielenbesitzers, flammte es kurz eifersüchtig in meinen Gedanke auf. „Geht’s noch auffälliger?“ und schubste sie in die rechte Ecke hinter dem Fenster, wo ER uns nicht sehen konnte. „Ich dachte du wolltest ihn kennenlernen?!“ Na, aber doch nicht so! Ich merkte schon, mit Petra zusammen, das wird so nichts. Wie kann man sich nur sooo unreif benehmen. Erst einmal in die Eisdiele die Straße hoch, um sich bei einem „Stampf - Schokoeis, mit Schokostreusel und Schokosauce“ Mut zufüttern. (Um meine Figur habe ich mir erst 30 Jahre später Gedanken gemacht.) Und um Petra, mit Guiseppes Anblick und seinen typisch italienischen Komplimenten „Cara, mia bellezza“ von IHM abzulenken.


„Und jetzt?“, fragte ich mich zwischen zwei Schokostreuseln. Noch sechs Tage auf Claudias Rückkehr warten? Im Ernst?! Oder doch allein noch mal losziehen, vor dem Schaufenster auf und ab flanieren – ganz so, als würde mich das kunterbunte Geschirr brennend interessieren? Haha. Total unauffällig natürlich. In meinem Kopf tobte der übliche Zirkus: Ich will wissen, wie er heißt. Wo er wohnt. Ob er Pizza mag. Was er mag. Ob er vielleicht auch nachts wachliegt und denkt: Wer war diese junge Frau mit dem Pulli in Augenfarbe? Aber dann wieder: Der bemerkt mich doch eh nicht. Warum auch. Hin- und hergerissen zwischen Mut und Mimimi, schaufelte ich mein Eis in mich rein – Stampf-Schoko mit allem, was drauf und drin war – und versuchte, nicht komplett durchzudrehen. Egal!


Gedacht, gesagt, getan. Was sollte schon passieren? Außer, dass ich mich komplett zum Volldeppen mache, vielleicht über meine eigenen Füße stolpere – oder im schlimmsten Fall frontal gegen die Schaufensterscheibe knall, weil ich natürlich ganz zufällig dieses blassgelbe Kleid aus nächster Nähe bewundern will. Ja klar. Total unauffällig. Ich – das neugierige Deko-Girl mit dem Charme einer Flipperkugel.


Ohne noch eine weitere Sekunde meines Lebens zu zögern, stand ich plötzlich auf, sagte zu Petra, welche eh mit Guiseppe flirtete, ich komm gleich wieder, zahlst du bitte schon mal für mich mit, schnappte mir meine Schultasche und machte mich auf den Weg zu IHM.


200 m, ohne nach rechts oder links zu blicken, die Augen nach unten, zügig ausschreitend. Bis ich volle Kanone ungebremst in den Rücken von Jemanden hineinkrache und abrupt mitten im Lauf gestoppt werde. Ausgerechnet in Jemanden der vor dem Schaufenster steht, um dessen Dekoration zu begutachten.


Ohne noch eine weitere Sekunde meines Lebens zu zögern, stand ich plötzlich auf. „Ich komm gleich wieder. Zahlst du bitte schon mal für mich mit?“, sagte ich zu Petra – die sowieso gerade mit Giuseppe flirtete. Schnappte mir meine Schultasche – und los. 200 Meter, ohne nach rechts oder links zu blicken. Zügig ausschreitend. Die Augen nach unten. Bloß nicht nachdenken. Bis ich volle Kanne und völlig ungebremst in jemanden hineinknalle. Mitten im Lauf. Ausgerechnet in jemanden, der direkt vor dem Schaufenster steht – und offenbar die Dekoration begutachtet, als hätte er nichts Besseres zu tun, als genau dort zu stehen, wo sich mein Schicksal entscheiden sollte.


„Hopperla, nicht so schnell.“ Erschrocken schaue ich auf starke, kräftige Hände mit Klavierspielerfingern, die mich vorm Hinfallen auffangen und festhalten. Dann blicke ich nach oben und lande direkt in den schönsten, lachend braunen Augen, die ich je gesehen habe. „Hi, ich bin Peter, Peter Schmidt – Schmidt mit „dt“!“

NAMASTE - Buddhaliebe


Schon als ich dich das erste Mal in dem ibizenkischen Laden an der Hauptstraße Richtung Santa Eulalia in einer Ecke versteckt, zwischen Plüsch und Plunder gesehen habe, hatte ich die klare Gewissheit, dass du bei mir ein zuhause findest.

Ich kann gar nicht einmal sagen, was mich zuerst berührte: War es deine Schlichtheit? Das Einfache, was eine Seite in mir zum Klingen brachte? Eine Seelenregung welche mir unter die Haut ging? 

Wenn ich dich jetzt so ansehe, dir gegenüber sitze,

gibst du mir ein Gefühl von Frieden.

Dieser in sich gekehrte und bei sich ruhende Blick. 

Die Augen geschlossen, dein Mund lächelt sanft.

Du bist auch ohne Haare wunderschön. 

Du sitzt im Schneidersitz auf einem Kissen, welches wie dein schlichter Umhang in lose Falten gelegt, cremeweiß, zart marmoriert glasiert ist.

Eine Gebetskette, welche in Blütenornamenten getöpfert ist, hängt als einziger Schmuck um deinen Hals.

In deinen beiden nach oben geöffneten Händen, hältst du vorsichtig ein Glas, in dem sich ein flackerndes Teelicht, welches einen sanften Schimmer auf dein Antlitz zaubert, befindet.

Immer, wenn es mir nicht gut geht und ich mentale Unterstützung brauche, zünde ich es an. Spreche ein kleines Gebet und werde umgehend tief in mir, so mitten innen drin in mir, ruhiger. 

„Alles wird gut“.


Gestern habe ich dir eine Muschel vom Strand als Geschenk mitgebracht, welche ich dir als Gabe vor deine nackten Füße legte.

Schön, dass du mich gefunden hast.

„Namaste“ mein kleiner Buddha.


Das Venn. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2020. Genauer gesagt den 14.11.2020


Ein Tag, welchen ich nie vergessen werde. Und dabei fing der Tag ganz unbeschwert und vorfreudig an.


„Ferro“ … „Ferro“ … „Ferrroooo“. Wo ist er jetzt wieder abgeblieben? Vielleicht hätte ich meinen Selbstaufklärer, #mybestbuddy, seines Zeichens ein knapp zwei Jahre junger, 28 kg schwerer Magyar Viszla (für die, die es nicht wissen: ein Ungarischer Jagdhund) - lebensbejahend, wild, verrückt, liebenswert und einer der unabhängigsten Hunde -, welche ich je kennengelernt habe -, doch nicht von der Leine lassen sollen, schießt es mir durch den Kopf. Fremde Umgebung, freie Wildbahn und im belgischen Venn mit den Sümpfen und Mooren, auch nicht ganz ungefährlich. „Ferroo“ rufe ich energisch und nicht mehr ganz so freundlich.


Es sollte doch nur eine kleine Gassirunde werden, bevor wir von der Besichtigung eines Ferienhauses, welches wir in Erwägung ziehen zu kaufen, wieder nach Hause fahren.


„Hoffentlich ist der blöde Köter nicht hinter einem Reh, oder Hasen hinterher…“ überlege ich vor mich hinbrummelnd, während ich die Gegend mit meinen Augen absuche. Der kommt schon, Ferro ist zwar einerseits ein Freigeist, jedoch andererseits ein ausgebildeter Jagdhund, welcher auf‘s Wort hört und wie ein Glöckchen pariert, versichert mir mein Wissen.


Ausgerechnet heute, muss er seine Unabhängigkeit unter Beweis stellen.


Aber weit und breit kein Hund in Sicht. Meinen Hund rufend, stampfe ich mit meinen Gummistiefeln durch hohes Wollgras und an dichten Ginsterbüschen vorbei, immer tiefer ins Venn. Langsam wird es mir trotz dicker Babourjacke und Mütze auf dem Kopf echt kalt. Hab ich schon erwähnt, das ich November hasse?! Ich hasse November! Dämmerig wird es auch schon. „Na super …“


„Warum hab ich dumme Nuss auch noch die Hundepfeife - auf welche er trainiert ist -, im Auto liegen lassen“ schimpfe ich, Selbstgespräche mit mir führend, „da hört er wenigstens drauf!“ „Ferro, verdammt noch mal“!


Plötzlich, höre ich rechts vor mir, ein platschendes Geräusch. „Ferro?“. Laute, welche ich noch nie gehört habe. Hoch. Fiepend. Slürpend.


Mein Handy als Taschenlampe verwendend, leuchte ich die Umgebung ab.


„Ferro“ schreie ich auf, als ich meinen Hund, nur noch mit dem Kopf aus einem Graben herausragen sehe, der in dem verzweifelten Versuch sich daraus zu befreien, sich dabei immer tiefer in ein Moorloch einarbeitet. Mir treten Tränen in die Augen, als ich meinen Buddy, meinen Hund in seiner schier aussichtslosen Lage erblicke.


„Ferro“, schluchze ich auf. „Alles gut“, rufe ich ihm beschwichtigend zu, „Alles gut“, während ich auf ihn zu stolpere. „Alles gut, nicht bewegen“. Panisch versucht seine linke Pfote Halt zu finden um sich selbst aus dem Sumpf, welcher ihn immer tiefer einsaugt, zu befreien. Seine rechte Pfote ist nicht mehr sichtbar, im Schlamm versunken.


Vorsichtig, der Gefahr auch für mich bewusst werdend, unablässig mit ruhiger zitternder Stimme, mit meinem Hund sprechend, lege ich mein Handy mit dem Licht auf Ferro zeigend auf den Boden. „Jetzt ja keinen falschen Schritt machen“, „nur noch knapp vier Meter“. „Alles gut, alles gut Wauz, Frauchen ist gleich da“. Meine Gedanken rasen. Ohne nachzudenken, lege ich mich flach auf den nassen, schlammigen Boden und robbe vorsichtig den letzen Meter zu ihm.


Mein Hund sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich taste den Boden nach etwas Festem ab und ergreife ein größeres halb verwittertes Stück Holz „hoffentlich hält es mein Gewicht“ flehe ich, während ich es unter mich ziehe und stütze meine Knie darauf ab. Stemme mich vorsichtig hoch und steige mit einem Bein über den Graben, packe Ferro an seinem Halsband und ziehe. Und, nichts passiert. „Ferro, bitte bitte nicht bewegen, Frauchen ist da. Wir schaffen das gemeinsam, bitte … bitte“.


Schlamm spritzt. Und da ist es wieder, dieses grässliche, schlürfend, saugende Geräusch.


Eben noch hat Ferro gezappelt, als er von einer Sekunde auf die andere ganz ruhig wird. Angst, welche mich umklammert, pumpt Adrenalin durch meinen Körper.


Meine Beine fest gegen den Boden stemmend, mit all meiner ganzen Kraft, gegen die Sogwirkung ankämpfend, mit dem unbändigen Willen, meinen Buddy, meinen besten Freund damit zu retten, hänge ich mich mit meinem gesamten Körpergewicht nach hinten. Zerre weiter an seinem Halsband und versuche mit all meiner Kraft ihn aus diesem scheiss stinkenden Morastloch zu befördern. „Verdammt nochmal“, fluche ich mich selbst motivierend „komm schon“ „Bitte lieber Gott, hilf mir…bitte“!


Jetzt seh ich beide Vorderläufe, seine Schultern, jetzt seinen Rücken, „Ferro, gleich haben wir es geschafft, nur noch der Poppers“, keuche ich weinend. Mit einem letzten Kraftakt, zusätzlich das Fell hinter seinen Ohren packend, gelingt es mir, mich zur Seite werfend, meinen Wauz nicht loslassend, Ferro zu befreien.


Hier liegen wir nun, beide zitternd vor Anstrengung und Angst. Ferro mit Frauchen, zwei schwarze, schmutzige, stinkende Seelen. Alle Energie in diesem Moor lassend, völlig erschöpft, halte ich meinen Freund eng, ganz fest umschlungen, weine und lache gleichzeitig. „Danke“ flüstere ich „Danke“!


Das Venn. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2020. Genauer gesagt den 14.11.2020


Ein Tag, welchen ich nie vergessen werde. Und dabei fing der Tag ganz unbeschwert und vorfreudig an.


„Ferro“ … „Ferro“ … „Ferrroooo“. Wo ist er jetzt wieder abgeblieben? Vielleicht hätte ich meinen Selbstaufklärer, #mybestbuddy, seines Zeichens ein knapp zwei Jahre junger, 28 kg schwerer Magyar Viszla (für die, die es nicht wissen: ein Ungarischer Jagdhund) - lebensbejahend, wild, verrückt, liebenswert und einer der unabhängigsten Hunde -, welche ich je kennengelernt habe -, doch nicht von der Leine lassen sollen, schießt es mir durch den Kopf. Fremde Umgebung, freie Wildbahn und im belgischen Venn mit den Sümpfen und Mooren, auch nicht ganz ungefährlich. „Ferroo“ rufe ich energisch und nicht mehr ganz so freundlich.


Es sollte doch nur eine kleine Gassirunde werden, bevor wir von der Besichtigung eines Ferienhauses, welches wir in Erwägung ziehen zu kaufen, wieder nach Hause fahren.


„Hoffentlich ist der blöde Köter nicht hinter einem Reh, oder Hasen hinterher…“ überlege ich vor mich hinbrummelnd, während ich die Gegend mit meinen Augen absuche. Der kommt schon, Ferro ist zwar einerseits ein Freigeist, jedoch andererseits ein ausgebildeter Jagdhund, welcher auf‘s Wort hört und wie ein Glöckchen pariert, versichert mir mein Wissen.


Ausgerechnet heute, muss er seine Unabhängigkeit unter Beweis stellen.


Aber weit und breit kein Hund in Sicht. Meinen Hund rufend, stampfe ich mit meinen Gummistiefeln durch hohes Wollgras und an dichten Ginsterbüschen vorbei, immer tiefer ins Venn. Langsam wird es mir trotz dicker Babourjacke und Mütze auf dem Kopf echt kalt. Hab ich schon erwähnt, das ich November hasse?! Ich hasse November! Dämmerig wird es auch schon. „Na super …“


„Warum hab ich dumme Nuss auch noch die Hundepfeife - auf welche er trainiert ist -, im Auto liegen lassen“ schimpfe ich, Selbstgespräche mit mir führend, „da hört er wenigstens drauf!“ „Ferro, verdammt noch mal“!


Plötzlich, höre ich rechts vor mir, ein platschendes Geräusch. „Ferro?“. Laute, welche ich noch nie gehört habe. Hoch. Fiepend. Slürpend.


Mein Handy als Taschenlampe verwendend, leuchte ich die Umgebung ab.


„Ferro“ schreie ich auf, als ich meinen Hund, nur noch mit dem Kopf aus einem Graben herausragen sehe, der in dem verzweifelten Versuch sich daraus zu befreien, sich dabei immer tiefer in ein Moorloch einarbeitet. Mir treten Tränen in die Augen, als ich meinen Buddy, meinen Hund in seiner schier aussichtslosen Lage erblicke.


„Ferro“, schluchze ich auf. „Alles gut“, rufe ich ihm beschwichtigend zu, „Alles gut“, während ich auf ihn zu stolpere. „Alles gut, nicht bewegen“. Panisch versucht seine linke Pfote Halt zu finden um sich selbst aus dem Sumpf, welcher ihn immer tiefer einsaugt, zu befreien. Seine rechte Pfote ist nicht mehr sichtbar, im Schlamm versunken.


Vorsichtig, der Gefahr auch für mich bewusst werdend, unablässig mit ruhiger zitternder Stimme, mit meinem Hund sprechend, lege ich mein Handy mit dem Licht auf Ferro zeigend auf den Boden. „Jetzt ja keinen falschen Schritt machen“, „nur noch knapp vier Meter“. „Alles gut, alles gut Wauz, Frauchen ist gleich da“. Meine Gedanken rasen. Ohne nachzudenken, lege ich mich flach auf den nassen, schlammigen Boden und robbe vorsichtig den letzen Meter zu ihm.


Mein Hund sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. Ich taste den Boden nach etwas Festem ab und ergreife ein größeres halb verwittertes Stück Holz „hoffentlich hält es mein Gewicht“ flehe ich, während ich es unter mich ziehe und stütze meine Knie darauf ab. Stemme mich vorsichtig hoch und steige mit einem Bein über den Graben, packe Ferro an seinem Halsband und ziehe. Und, nichts passiert. „Ferro, bitte bitte nicht bewegen, Frauchen ist da. Wir schaffen das gemeinsam, bitte … bitte“.


Schlamm spritzt. Und da ist es wieder, dieses grässliche, schlürfend, saugende Geräusch.


Eben noch hat Ferro gezappelt, als er von einer Sekunde auf die andere ganz ruhig wird. Angst, welche mich umklammert, pumpt Adrenalin durch meinen Körper.


Meine Beine fest gegen den Boden stemmend, mit all meiner ganzen Kraft, gegen die Sogwirkung ankämpfend, mit dem unbändigen Willen, meinen Buddy, meinen besten Freund damit zu retten, hänge ich mich mit meinem gesamten Körpergewicht nach hinten. Zerre weiter an seinem Halsband und versuche mit all meiner Kraft ihn aus diesem scheiss stinkenden Morastloch zu befördern. „Verdammt nochmal“, fluche ich mich selbst motivierend „komm schon“ „Bitte lieber Gott, hilf mir…bitte“!


Jetzt seh ich beide Vorderläufe, seine Schultern, jetzt seinen Rücken, „Ferro, gleich haben wir es geschafft, nur noch der Poppers“, keuche ich weinend. Mit einem letzten Kraftakt, zusätzlich das Fell hinter seinen Ohren packend, gelingt es mir, mich zur Seite werfend, meinen Wauz nicht loslassend, Ferro zu befreien.


Hier liegen wir nun, beide zitternd vor Anstrengung und Angst. Ferro mit Frauchen, zwei schwarze, schmutzige, stinkende Seelen. Alle Energie in diesem Moor lassend, völlig erschöpft, halte ich meinen Freund eng, ganz fest umschlungen, weine und lache gleichzeitig. „Danke“ flüstere ich „Danke“!


Dieses Wetter muss voll ausgenutzt werden. Die Sonne scheint, es sind angenehme 26° und eine laue Brise weht vom benachbarten Botanischen Garten Blütenduft herbei. Wir - dass sind meine Eltern und meine vier Jahre jüngere Schwester Tanja und ich - genauer gesagt meine Eltern, sind seit diesem Frühjahr Mitglieder des einzigen Tennisclubs unseres 40.000 Seelen Ortes. Hier verbringen sie seither jedes Wochenende, ach was, gefühlt jede freie Minute an diesem Ort der Selbstertüchtigung. Dito meine Wenigkeit, wenn ich nicht zur Schule muss, Gitarrenunterricht habe oder mich im Reitstall befinde. Auf dem Tennisplatz „Am Stein“. Er hat sein Ressort auf dem Theresienstein Areal, inmitten eines riesigen Parks.


Während sich unsere Eltern auf einem der zwanzig Tenniscourts in der Kunst des gelben Balles probieren, dürfen wir Kinder an der etwas Abseits gelegenen Ballwand unbeschwert versuchen, zukünftige Ilie Nastase‘s zu werden.


„Kommt, lasst uns ein Eis holen“. Spontan stimmen wir Anderen Sabine, diesem Wirbelwind zu und rennen übermütig zum Clubhaus, welches von einem älteren Pächter und seiner Frau betrieben wird. Wie 10 / 11 jährige Kinder eben so rennen … sich schubsend, dabei lachend, blödelnd, unbekümmert sorgenfrei. Jungs und Mädchen gemischt.


Im Clubhaus gibt es eine Theke, an der seitlich ein großes Poster mit den verschiedensten Eissorten und den entsprechenden Preisen versehen, hängt- Nogger 80 Pfennig, Dolomiti und brauner Bär je 50 Pfennig, Domino 60 Pfennig, Capri. Ich wähle „Capri“ für 40 Pfennig aus. Ich liebe den etwas süß klebrigen Geschmack nach Orange. Bei dem Wetter genau das Richtige.


Da wir Kinder nie Geld einstecken haben, werden Verzehr wie Limo, Eis und Co stets auf einem Deckel unserer Eltern notiert, welcher am Ende des Monats beglichen wird. Jetzt bin ich an der Reihe. „Ein Capri bitte. Es wird auf Herrmann Schädlich aufgeschrieben.“ Mitten im überreichen aus der vor Kälte dampfenden Eistruhe, stockt der Pächter inmitten seiner Bewegung verharrend und sieht mich fragend mit hochgezogenen Augenbrauen an „Für wen bitte? „Herrmann Schädlich!“ „Aber wer bist du denn? Dich kenn ich nicht! Geht das denn überhaupt in Ordnung?“ „Hhmm Ja, das geht in Ordnung, ich bin die Tochter.“ „Aber du bist doch nicht dem Herrmann seine Tochter! Die kleine Süße mit dem dunklen Wuschelkopf, die Tanja, die kenn ich. Na da, muss ich erst einmal nachfragen, denn so wie du aussiehst, sicher? Ganz sicher nicht … .“ Ich erstarre.


Meine Freunde sehen mich an. Keiner sagte jedoch ein Wort. Keiner sagt mir zu Hilfe eilend „Ja, das stimmt schon“.


In diesem Moment zerbrach etwas in mir. Mein ganzer Körper fühlte sich plötzlich ganz heiß an. Meine Handflächen prickelten. Mein Gesicht glühte. Meine bisherige Unbeschwertheit verschwand. 180° Wende im Blick auf mich selbst. „Bitte lieber Gott, lass den Boden unter mir auftun.“ 40 Pfennig! Wie aus dem Nichts, ohne Vorwarnung. Der Bruch in meinem jungen Leben.


Zeitreise: Wenn ich nicht mit meinen Freunden zum Beispiel im Reitstall bin, oder unserer alten Nachbarin beim Einkaufen helfe und ihr vorlese, weil sie nicht mehr so gut sehen kann oder ich mein Zimmer nicht gerade - sehr zum Leidwesen meiner Eltern zum 100 ten Mal umdekoriere, spiele ich mit meiner kleinen Schwester mit unseren Barbiepuppen. Oft lese ich ein neues Buch, welches ich mir aus der Stadtbücherei leihe. Oder, wenn Mama nicht gerade ihre Nähmaschine selbst in Beschlag nimmt, nähe ich aus Stoffresten Kissenbezüge, Barbiekleider, oder ein Stoffspielzeug, welches ich auch schon mal in der Nachbarschaft, um mein mageres Taschengeld aufzubessern, für je Eine Mark verkaufe. Mama hat mir das Nähen beigebracht. Sie kann das richtig gut. Sie näht meiner Schwester und mir, als auch für sich selber Anziehzeugs. Wobei ich die Sachen für meine Schwester viel hübscher finde. Erst letztens hat Tanja einen tollen rotgelb karierten Swingmantel bekommen. Für mich blieb leider nur Stoff für eine lodengrünen Jacke übrig. Tendenz unauffällig, diskret. So fall ich wenigstens nicht auf. Papa trägt auch fast ausschließlich Beige und Grün. Naja, er muss ja auch Tag für Tag auf irgendwelche Baustellen und seine Leute kontrollieren. Und auf Beige und Grün sieht man den Staub nicht so, hat Mama mir erklärt. Bin ich staubig? Das einzige an mir, was irgendwie staubig aussieht, sind meine straßenkötterblonden aschblonden - ich sag immer arschblonden - Haare, welche ich aus praktischen Gründen immer zu Rattenschwänzen gebunden bekomme. Inklusive einem ultrakurzen Pony, welchen Mama mir in einer beängstigenden Regelmäßigkeit mit der Haushaltsschere selbst schneidet. Ich habe noch nie einen Friseursalon von innen gesehen. Guck mir zwar regelmäßig Bilder von Models in einer der vielen Frauenzeitschriften von Mama an, konnte jedoch bisher noch kein Model entdecken, welches meine Frisur trägt. Naja, die Models sind ja darüberhinaus auch noch ultradünn, wie man am Beispiel von Twiggy oder Cheryl Tiegs, welche meinem Papa ziemlich gut gefällt, sieht. Auch hiermit kann ich beim besten Willen nicht dienen - pummelig, mit Babyspeck um die Taille und Mondgesicht, welches noch durch den Pony extra dahingehend betont wird. Ihr seht schon, die Bezeichnung Schönheit, gilt nicht mir. Aber mit elf Jahren sieht man es nicht ganz so eng. Von dem Wunsch nach einem rotgelb karierten Swingmantel mal abgesehen. Oder? Sind doch alles nur Äußerlichkeiten. Dachte ich. Bis zu diesem Tag. Tja, 180° Wende.


Ich war nie mehr auf dem Tennisplatz. Ich weigerte mich. Jedes Wochenende blieb ich lieber alleine zuhause, als diesen Ort je wieder zu betreten. Als je wieder den Mitwissern meiner Schmach unter die Augen treten zu müssen. Es hat mich von meiner Familie entfremdet. Ich habe ihnen nie etwas gesagt. Ich habe mich so geschämt. Das häßliche Entlein inmitten dieser wunderschönen Familie. Mama - die Schönheit, angehimmelt von der Männerwelt, meine jüngere Schwester ihr Ebenbild, mein Vater der Mann, dem die Frauen scharenweise zu Füßen liegen. Ich wollte kein Störfaktor des perfekten Bildes abgeben. Ich, ein straßenkötterblondes Pummelchen mit Babyspeck um die Taille und rundem Gesicht. Welches Null in diese perfekte Familie passte. Alle in meiner Familie haben dunkle Haare, sind rank, schlank, sportlich durchtrainiert. Wahrscheinlich bin ich doch adoptiert. Der Grundstein meiner Magersucht wurde gelegt. Ich verschwand.


Liebes Tagebuch: ICH HASSE MEINE ELTERN! Zwei Jahre danach vereinbarten meine Eltern einen Termin bei einem Kinderpsychologen, da ich in ihren Augen pupertär extrem anstrengend war, bockig, widerspenstig, trotzig, und zusätzlich jegliches Essen verweigerte. Geholfen hat es nichts. Ich hab zwar im Beisein meiner Eltern begonnen wieder zu essen, jedoch auch schnell herausgefunden, wie dies nicht meiner Figur schadet. Als auch, dass ich versuchte 24/7 „Liebkind“ zu sein, um mir wenigstens ein bisschen Freiheit zu erobern. Neben schulisch zu erwartenden Leistungen, im Haushalt zu helfen, stets pünktlich zuhause zu sein etc. etc. etc., nicht immer einfach. Blöd nur, dass meine ach so putzige kleine, hübsche einschleimerische Petze von Schwester, eine Vorliebe dafür hatte, mich anzuschwärzen und mir oft einen Strich durch die Rechnung machte, indem sie mich wo immer sie eine Chance sah, mir eins auswischte, und jeden Fehltritt, wie nächtliches aus dem Fenster steigen um mich mit Älteren am Bushäuschen zu treffen, um ein kleines Beispiel zu nennen, meinerseits unseren Eltern freudig mitteilte.


Mit 17 ergatterte ich meinen ersten Modelljob, das graue Mäuschen hat sich gemausert. Aus dem häßlichen Entlein wurde ein Schwan. Doch zu welchem Preis? Bulimie und Magersucht klatschten sich abwechselnd ab.


Mit 19 belauschte ich zufällig ein Gespräch, welches mir klar vor Augen führte, dass ich gegen Windmühlen ankämpfe und dass ich nie annähernd so schön sein werde, wie meine Mutter. „Also ehrlich, wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich für die Mutter entscheiden, was für eine Granate. Mit der würde ich zu gerne mal ….!“ Sagt der Mann, in den ich total verknallt bin, der Mann meiner Träume, zu seinem besten Kumpel und lacht. Sein Kumpel nickt zustimmend und fällt breit grinsend in das Lachen ein.


Jetzt, Jahre später weiß ich, ich wollte doch nur dazugehören. Mein sehnlichster Wunsch: eine Schönheit sein, wie Mama oder Barbie. Gemocht zu werden. Auch heute noch assoziiere ich Attraktivität mit Akzeptanz. Möchte das perfekte äußere Bild abgeben.


Hatte immer den Wunsch, um jeden Preis - im wahrsten Sinne des Wortes- die schönste, attraktivste Frau für meinen Partner / Mann zu sein. Was hab ich nicht alles dafür getan. Botox, Fadenlifting, Hyaluron, Brust OP, Kältetechnik gegen den zunehmend fetter werdenden postmenopausalen Bauch. In meinem Bekanntenkreis bin ich diesbezüglich ein kompetentes Versuchskaninchen und Vorreiterin aller möglicher neu entwickelten Schönheitstools und Behandlungen, welche ich, wenn um Rat gefragt, weitergebe.


„Ist es nicht interessant, dass ich aggressiv werde, als auch sofort dessen Partei ergreife, wenn ein Mensch ausschließlich nach seinem Äußeren beurteilt wird?!“ überlege ich gerade laut, während ich diese Zeilen schreibe.


Wenn ich das Geld hätte, würde ich es wie Demi Moore handhaben.


Da dieser Wunsch nach äußerlicher Perfektion jedoch unerfüllbar, unerreichbar - eine harte Lehre - nicht umsetzbar ist, opfere ich mich für Freunde, Patienten, Familie, Partner auf. Bin stets für Jeden mit Rat und Tat zur Stelle. Ein Ersatz für den Anspruch an meinen mir gesetzten Perfektionismus? Menschen lieben mich und fühlen sich in meiner Anwesenheit wirklich wohl. Man schwärmt von mir: Ich bin die netteste, emphatischste, fürsorgliche, aufrechte, verschwiegene, hilfsbereite Person. Jedoch MIR, werde ich nie gerecht.


Das Kind in mir schüttelt verwundert den Kopf „Seltsam, dass ich trotzallem nach wie vor, Capri Eis mag.“


„Du musst etwas finden, was dir hilft, deine innere Mitte wieder zu erlangen“. „Du solltest dich mit Gleichgesinnten zusammentun“. „Hast du es schon einmal mit Qigong probiert? Oder mit Yoga?“ „Was sagt denn dein Arzt?“ „Hast du jetzt schon einen neuen Termin in der Neurochirurgie vereinbart?“ „Lässt du dich jetzt operieren?“ Ich bin mir bewusst, dass all die lieb gemeinten Fragen und Ratschläge meines Umfeldes mir nur helfen wollen. Auch wenn ich ab und an etwas genervt ob der Überfürsorge mit den Augen rolle. Wenn Familie und Freunde mir ihre Unterstützung anbieten, wenn sie mich ansehen, um mir durch die Blume zu sagen, wie scheiße ich aussehe, dass meine dunklen Augenringe nicht von zu viel Kajal kommen und sie sich etwas hilflos fühlen, angesichts der unleugbaren Situation, wenn man mir meine Anspannung anmerkt.


Diese andauernden Kopfschmerzen und diese dadurch verursachte innere unruhige Nervosität machen mich zusätzlich auch noch gereizt, als ob die alltäglichen Belastungswehwehchen in meinem Rücken - „mir geht es wie dem Jesus, mir tut das Kreuz so weh“ blöder Spruch blitzt es in meinen Gedanken kurz auf, nicht so schon reichen.


Hier lieg ich nun auf dem glatten, schon etwas in die Jahre gekommenen Stäbchenparkettboden in unserem Wohnzimmer. Es ist nicht nur der größte Raum im Haus, ich habe auch einen unverstellten Blick hinaus in unseren herrlichen Garten. Unter mir eine perfekt zugeschnittene, zu meinen 178 cm passenden Schaumstoffmatte in einem lavendelfarbenen Ton. „Diese Farbe hat eine zusätzlich beruhigende Wirkung“ versicherte mir der freundliche Verkäufer glaubhaft. Ich war schon immer stark von werbewirksamen Slogans beeinflussbar. Ich bin eine „noch weißer als weiß“, naja, in diesem Fall lavendelfarben zu inspirierende, kauffreudige Kundin.


„Ein Versuch ist es ja wert, schlimmer, kann es dadurch kaum werden“ rede ich mir gut zu.


Hier lieg ich nun auf meiner lavendelfarbenen Yoga - Schaumstoffmatte und nichts engt mich ein. Weder meine schon etwas aus der Form geratene blau verwaschene Legging, noch mein weißes lockeres Baumwoll-T-Shirt. Ich bin barfuß. Meine langen blonden Locken habe ich mit einem sog. Scrunchie locker zu einem hohen Dutt, wie man bei uns in Bayern so charmant sagt, zusammengeschnerpfelt,.


„Gut, dass mich sooo keiner sieht“, insistiert mein allseits optisch gepflegtes Äußeres ICH grummelnd vor sich hin.


Mein I Pad ist in Position gebracht, so dass ich stets, einen guten Blick darauf werfen kann, um den Anweisungen der/ des jeweiligen Trainerin, welche ich mir ausgesucht habe, bewusst nachüben kann.


Gestern „Bodychallenge - in 28 Tagen zur Strandfigur“. „Haha, Schön wär’s, wenn ich auch noch meine Schokoladenliebe damit bezwingen kann und nicht schon Ü50 wäre“ murmel ich und zweifelte schon etwas an Tag Eins den Kauf, dieser mir doch so heiß angepriesenen App an. Doch so schnell aufzugeben, ist für mich keine Option. „No way, no way, lets get started“ summe ich falsch vor mich hin. Heute an Tag Zwei entscheide ich mich aufgrund meiner angespannten Schulter- und Rückenpartie für „somatisches Yoga mit Anna“. Diesbezüglich mag ich diese App, da sie mich selbst aussuchen lässt, was ich im jeweiligen IST Zustand benötige. Ein kleiner Fingertouch startet das etwa 20 minütige Programm, mit 20 sogenannten Asanas.


Ich liege hier, meine langen Beine flach ausgestreckt, meine Handflächen ruhen entspannt neben mir. „Da hat auch schon lang keiner mehr den Staubwedel geschwungen“ denke ich laut beim Blick in die linke obere Ecke. Inhale … exhale, die Augen geschlossen. Bewusst atmen. Bisher war mir nicht klar, dass ich verlernt habe, wie es sich anfühlt tief und vor allem bewusst ein- und auszuatmen. Im Hintergrund der Session spielt leise eine beruhigende, etwas mystische Musik, während Anna mit entspannter Stimme verschiedene, ineinander gleitende Anleitungen gibt, unterdessen sie die einzelnen Übungen, welche uns den Schülern vor dem Bildschirm helfen soll, vormacht.


Ich lasse mich komplett darauf ein. Zentriert, fokussiert mein Sein in der Balance zu halten. Was mir, wie ich mir selbst eingestehen muss, nicht immer leicht fällt. Ein kleines Loch in der Innennaht meiner Legging lenkt mich kurzzeitig ab, irritiert meine Konzentration und zack verliere ich fast mein Gleichgewicht, als ich versuche in aufrechter Stellung nur auf einem Bein sicher stehen zu bleiben, während der linke Fuß auf der Aussenseite meiner Wade ruhen soll. „Uppsala“ entfährt es mir, so dass ich mit meinen beiden Armen rudernd nachhelfen muss, welche eigentlich zu einer Krone über meinem Kopf zusammengeführt sein sollten, damit diese Übung „the tree“ mich in aufrechter Stellung einfüßig mit Mutter Erde verbindet.


Einatmen, ausatmen, das Atmen nicht vergessen, den eigenen Körper spüren. Noch suche ich meine Mitte. Von meinem Kopf beginnend, über die Schultern, meine geschundene Wirbelsäule hinab, über meine Hüften, beide Beine entlang, bis hin zu meinen Füßen, den eigenen Körper mit fließenden Bewegungen punktuell wahrnehmen, um zu einer Einheit geführt zu werden. „Well done, good job, move into mountain pose“, werden wir Schüler von Anna nach getanem Asana gelobt. Überrascht stelle ich fest, dass ich mich gut fühle.


Nach zwanzig minütigen wohltuendem Yoga, ist mein Körper angenehm durchblutetet, warm. Ich lasse meine Gedanken fließen. Lasse zu, dass sie zur Ruhe kommen. „Einatmen Inhale, Ausatmen Exhale.“ spricht mein Mantra. Unverhofft verschleiern Tränen meinen Blick und doch fühle ich mich tatsächlich gut. Bin dankbar. Dankbar für die Me time, dankbar, für meine Freunde und Familie, welche in ihrer Hilfe nie nachlassen und mich auch mal aus meiner Komfortzone schubsen. Ich verharre noch einen Moment liegend auf meiner lavendelfarbenen Yogamatte, erhebe mich dann langsam und bedächtig. Stehe aufrecht, den Blick klar, lege ich meine Handflächen vor der Brust - unserem Herz Chakra - aneinander, neige meinen Kopf, spüre die Energie, erweise mir Respekt und flüster leise „Namaste“.

Ich sitze entspannt Musik hörend am Wegrand auf einer Bank. Die Sonne scheint mir ins

Gesicht. Vor mir Hügel, Weite, und die Herbstluft riecht nach Erde und Regen. In meinen

Earphones beginnt durch Zufallsmodus „Komm, lass uns leben, lass uns lieben, das Leben

ist gar nicht so schwer“ von Westernhagen zu spielen. Es ist „unser Lied“.

Und es katapultiert mich, wie jedes Mal, mehr als 30 Jahre zurück. Zurück zu einem

anderen Leben, zu einem anderen Ich. Was wäre gewesen, wenn …?

Es ist Sommer, und die Hügel des Schwarzwalds leuchten in einem satten Grün. Ich lebe in

einem kleinen beschaulichen Ort, umgeben von Weinbergen, Feldern und Mischwäldern, in

denen ich gerne auch Abseits des Touristentrubels spazieren gehe. Es hätte eine Zeit der

Ruhe und Zufriedenheit sein können – aber innerlich bin ich längst verloren, bin in einer

Farce von Ehe gefangen. Sie ist ein Trümmerhaufen, ohne Zuneigung, Verständnis oder

Respekt und ist, wenn ich ehrlich zu mir bin, nie eine wirkliche Ehe gewesen. Ich habe

viel gegeben, um ein „Wir“ zu retten, das es jedoch nie gab. Aber das ist eine andere

Geschichte.

Und dann kam Alexander.

Ich warte auf meine Freundin in dem kleinen Stammcafé am Hang, als er hereinkommt. Er hat

diese Ausstrahlung, die den Raum für einen Moment still werden lässt.

„Verdammte Scheiße“, denke ich „von welchem Planeten ist der denn entsprungen. WOW.“ Ich

starre ihn regelrecht an, als sich unsere Blicke treffen, und ich spüre etwas, das ich

lange nicht mehr gespürt habe: Leben. Er spricht mich an, wir reden, und reden und reden

und ich verliere mich immer mehr in dieses Charisma und einem Gefühl von Aufmerksamkeit,

ehrlichem Interesse an meiner Person und ahne nur vage was da gerade passiert.

Diese unvorhergesehene Begegnung verwandelt sich in vier Tage voller Gespräche, Lachen

und intensiver Nähe. Es bleibt nicht nur bei Worten – wir lieben uns, als gäbe es kein

Morgen. Verrückt, sehnsüchtig, leidenschaftlich. Ich habe das Gefühl, endlich wieder frei

atmen zu können, nach Jahren, in denen ich nur neben mir existiert, funktioniert hab.

Es ist ein Rausch, der mich mitreißt, ein Rausch, der alles übertönt.

Doch am vierten Tag sagt er die Worte, einen Satz, den ich nie hören wollte. Die

Vorstellung von einer gemeinsamen ewigen Zeit, die Illusion daran zerbrach: „Ich bin

verheiratet.“ „Das hier, hätte nie passieren dürfen.“ „Ich habe mich in dich verliebt.“

Es fühlt sich an, als würde ich auf einen Abgrund zu rennen, ohne es zu merken. Doch es

ist zu spät. Ich bin zu tief drin, zu verliebt, zu hungrig nach diesem Gefühl von Leben,

nimmersatt nach ihm. Vielleicht hätte ich es besser wissen müssen.

Drei Jahre zuvor hatte ich einen „Geist“ besiegt, und ich hatte mir geschworen, mein

Leben von nun an voll auszukosten. Aber stattdessen finde ich mich in einer Lüge wieder,

in der ich mich selbst verrate. Ich klammere mich daran, an diese verzweifelte Hoffnung,

dass Liebe für mich allein genug sein kann. Ich will nicht sehen, was klar vor meinen

Augen liegt – dass es keine Zukunft gibt.

Was folgt, ist eine heimliche Liebe, die im Schatten lebt. Keine gemeinsamen Urlaube,

Feiertage oder spontanen Aktionen.

Heimliche Fahrten nach Unna, wo er wegen seines Jobs ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft

hat. Nächte, die sich unendlich anfühlen, bis ich wieder fahre. Oder er sich auf dem Weg

zu seiner Familie nach Willingen macht. Ich will nichts von dem „anderen Leben“ wissen.

Ich will nur diese Momente, unsere gestohlene Zeit anhalten, festhalten. Er und ich.

Ein halbes Jahr später wage ich den großen Schritt: Ich verlasse meinen Mann und ziehe

nach Münster, da hier ein Teil meiner Familie lebt und es näher an Unna ist.

Alexander kommt jetzt fast täglich, außer an den obligatorischen Wochenenden oder an

Feiertagen zu mir. Für zwei Jahre leben wir in unserer Oase, unsere große, versteckte

Liebe. Es ist nicht perfekt, aber ich rede mir ein, dass es genug ist. Ich sage immer:

„Ich nehme dir nichts weg. Ich gebe mich dir dazu. Ich bin hier, solange du mich willst.“

Und ich glaube wirklich, dass das Liebe ist. Doch in Wahrheit ist es Naivität. Eine

Selbstverleugnung, die ich erst viel später erkennen werde.

Dann kommt der Tag der ungeschminkten Wahrheit. Eines Tages, als ich seine Brieftasche

öffne, um Geld zu wechseln, finde ich eine Visitenkarte. Es war nur ein Name, 

handgeschrieben eine Telefonnummer, nur eine Adresse, aber sie lässt mich nicht los. Als

ob mir mein siebter Sinn stetig etwas sagen will.

Kurz darauf beginnen sich seine Ausreden zu häufen, weshalb er nicht mehr so oft nach

Münster kommt: Fortbildungen, familiäre Verpflichtungen. Etwas in mir weiß, dass da mehr

ist, aber ich weigere mich, es zu sehen. Ich will diese Welt, und wenn sie noch so

scheinheilig ist, unsere kleine Welt, die wir zusammen aufgebaut haben, nicht verlieren.

Eines Tages, als er wieder einmal kurzfristig absagt, überrede ich von Unruhe getrieben

einen treuen Freund mit mir zu der Adresse auf der Visitenkarte zu fahren.

Wir warten, ich sitze versteckt im Fussraum des Beifahrersitzes, in einem fremden Auto.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt Alexander und ich sehe, wie er aus seinem Wagen

steigt, zur Haustür geht. Eine blonde Frau öffnet ihm die Tür, fällt ihm lachend in die

Arme, er fängt sie auf, wie er mich immer auffängt, sie küssen sich und er verschwindet

in ihrem Haus.

In diesem Moment zerbricht etwas in mir. Ich will aus dem Auto springen, klingeln,

schreien, ihn zur Rede stellen. Aber ich tue nichts. Ich bleibe stumm, wie gelähmt, nur

innerlich schreie ich. Wir fahren zurück, und ich liege die ganze Nacht wach, unfähig zu

fühlen. In Endlosschleife drehen meine Gedanken durch. Es gibt noch eine weitere Frau

neben mir und seiner Ehefrau. Ich übergebe mich. Mir ist kalt.

Am nächsten Tag kommt er wie vereinbart zu mir, nimmt mich wie immer in die Arme und

sagt: „Ich hab dich so sehr vermisst.“ Und ich? Ich lächle, „und ich dich!“, als wäre

nichts gewesen. Ich will die Lüge glauben, mehr als alles andere.

Ich schlafe nicht. Mir ist nur noch schlecht. Ich esse nichts, mein Gedankenkarussell

wälzt sich hin und her. Zwei Wochen später erfahre ich, dass ich schwanger bin. Zum

ersten Mal seit Langem fühle ich wieder so etwas wie Hoffnung. Doch ich sage ihm nichts.

Vielleicht aus Angst, vielleicht aus Stolz, vielleicht aus Trotz, vielleicht weil ich

endlich etwas habe, das nur mir gehört? Vielleicht, weil ich möchte, dass er sich für

mich entscheidet und nicht nur für mich, aufgrund unseres ungeborenen Kindes.

Doch dann kommt Weihnachten, und ich verbringe die Feiertage wie immer ohne ihn, bei

meiner Familie. Es ist ein stilles Fest, obwohl meine Familie sich die allergrößte Mühe

gibt, dass ich mich aufgehoben, geborgen bei ihnen fühle. In mir jedoch tobt ein Sturm.

Am Morgen des 25. Dezembers verliere ich unser Kind.

Ich sitze allein in meinem alten Kinderzimmer und fühle nichts als Leere.

Das war der Moment, in dem ich weiß, dass ich kämpfen muss – nicht um ihn, sondern um

mich selbst. Um meiner Selbstwillen kann ich nicht so weitermachen.

Januar, neues Jahr. Zurück in Münster ruft Alexander wie erwartet an. Er sagt, er

vermisst mich, die Feiertage ohne mich waren so zermürbend, aber auch, dass ihm alles

über den Kopf wächst. Ich verstehe – drei Frauen sind für den Superman zu viel. Ich kann

nicht mehr.

Ich bitte ihn, seine Sachen abzuholen und den Schlüssel dazulassen. Ich erzähle ihm

nichts – weder, dass ich von der anderen Frau weiß, weder von der Schwangerschaft, noch

von der Fehlgeburt.

Er und alles, was je zwischen uns war, ist ein Kapitel, das ich schließen muss, um nicht

selbst daran zugrunde zu gehen.

Manchmal höre ich „Komm, lass uns leben“ von Westernhagen im Radio, und jedes Mal fühle

ich mich zurückversetzt. Zurück zu diesem Sommer im Schwarzwald, „Wünsche werden wahr“

denke ich verträumt bei mir und blicke zu dem größten Vollmond, den ich je gesehen habe.

Wir sind auf einem Weinfest, sind betrunken vom Wein und vom Glück, lachen, und ich fühle

mich so unbeschwert und frei.

Dorthin, wo alles begann.

Heute sehe ich Alexander ab und an auf Facebook. Wir liken ab und zu die Stories des

anderen, aber wir schreiben uns nicht. Außer an unseren Geburtstagen. Er lebt jetzt als

Rentner auf Mallorca, mit oder ohne die Frau, die ihn damals gewann. Ich weiß es nicht

und möchte es auch nicht wissen. Sie hatte damals, wie ich später erfuhr, ebenfalls

zeitgleich schwanger wie ich, um ihn gekämpft.

Etwas, das ich nicht konnte.

Vielleicht hätte ich kämpfen sollen. Vielleicht hätte ich ihm die Wahrheit sagen sollen.

Aber damals hatte ich keine Kraft mehr. Der Verrat, die Lüge. Der überstandene Schatten,

die Angst vor dem Wieder – so Vieles lähmte mich.

Heute weiß ich, dass mein Kampf ein anderer war. Es war der Kampf, mich selbst nicht zu

verlieren. Es war der Kampf, weiterzugehen, trotz allem. Leben bedeutet nicht immer, zu

kämpfen, um etwas zu halten. Manchmal bedeutet es, loszulassen. Und manchmal bedeutet

Liebe, sich selbst genug zu sein.